Luzifers Geliebte (Geschichtentrilogie Band 2 Fantastische Geschichten)
setzt sich auf die Spitze des kahlen Lindenbaumes vor dem winzigen Fenster, verharrt.
Linda gelingt es nicht, sich zu konzentrieren; sie scheint jegliche Orientierung verloren zu haben.
Wo ist draußen?
Drinnen?
Oben ?
Unten?
Verwirrt schaut Linda um sich. Alle Konturen verschwimmen in dem kahlen Raum. Längst Verstorbene werden lebendig an den weißen Wänden, nähern sich ihr bedrohlich, wispern, neigen die Köpfe im Gebet, rollen die Augen, öffnen lautlos ihre Münder.
Plötzlich ist das Schreckensbild in rotes Licht getaucht. Ein Schrei zerreißt die Stille. Rauchwolken steigen auf. Menschen fallen übereinander her. Wälzen sich stöhnend zwischen Gräbern.
"Reiß dich zusammen", murmelt Linda, "bald ist der Spuk vorbei. Nur erinnern musst du dich, erinnern."
Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen, wippt Linda auf dem Holzstuhl; vor, zurück, vor, zurück, vor zurück…
*
Der Himmel schien niedrig. Kalte Luft wehte vom Friedhof herüber. Ab und zu tauchte der Vollmond zwischen die dunklen Wolken, hüllte die Gräber, die kahlen Bäume, das ganze Szenarium in sein gespenstisches Licht.
Das Kind wusste nicht, wie es an diesen Ort gekommen war. Auf dieses umgedrehte Kreuz, auf dem es reglos lag.
Gestalten in roten Kaputzenmänteln mit einem auf dem Rücken eingestickten schwarzen Kreuz näherten sich ihm schwankend, hielten lodernde Fackeln in ihren Händen, liefen andächtig in einer Reihe hintereinander, sangen leise beschwörend eine Melodie, die ihm bekannt vorkam.
Der monotone Singsang erinnerte an Unheil. Schmerz. Tränen.
Das Kind musste seinen Körper verlassen. Diese Wehr hatte es gelernt in all den Jahren der Qual.
Wie ein verschrecktes Tier verkroch es sich in eine dunkle Ecke des Friedhofs und beobachtete das Ritual:
Der Körper des Kindes war nackt, zitterte vor Angst und Kälte.
Es hatte schon andere Kinder auf dem schwarzen Kreuz liegen sehen, den Dolch blitzen, das Blut an ihm schimmern im hellen Schein des Vollmonds. Hatte die Schreie gehört, das unterdrückte Stöhnen, wusste: Der Altar war zum Opfern da.
Mit weit geöffneten Augen starrte das Kind in den Mond, der seine ganze Schönheit gerade entfaltet hatte.
Es durfte sich nicht bewegen, musste stillhalten, folgsam sein; es war die Auserwählte.
Tief atmete sie den rauchigen Duft des Feuers. In seinem flackernden Licht waren die Gesichter der Gestalten nicht zu unterscheiden, auch nicht die Körper, die in einer plötzlichen Bewegung erstarrt waren.
Warmes Öl tropfte auf ihren starren Körper; sie stieß einen langen Seufzer aus.
Die mystischen Gestalten wiegten sich wieder im rhythmischen Tanz, wirbelten wie Gespenster um sie herum.
Plötzlich spürte sie die Kühle der Nachtluft stärker, die kahlen Bäume wippten gespenstisch über den dunklen Gräbern, der Mond war verschwunden, der Gesang verebbt, die tanzenden Gestalten nochmals in der Bewegung erstarrt.
Ein Hohepriester begann mit vertrauter Stimme zu lesen:
"Ein Bastard soll nicht in die Versammlung des Herrn aufgenommen werden; auch seine Nachkommenschaft bis ins zehnte Glied soll nicht in die Gemeinde des Herrn kommen." - (fünftes Buch Moses, 23:2)
Langsam schritt der Hohepriester auf sie zu, legte seine Hand auf ihre Stirn und murmelte:
"Geist der Höllenbrut. Fahre hinaus aus diesem verdorbenen Körper. Verlasse diese fleischliche, widerliche Hülle. Diesen Sündenpfuhl! Diesen Ort elendiglichen Gewürms. Fahre hinaus! Lege dein Gelübde ab, Diener des Satans zu sein."
Der Hohepriester salbte ihren nackten Körper, wickelte sie in weißes Leinen, nahm sie auf seine Arme, hielt sie der wartenden Menge entgegen und sprach mit lauter Stimme:
"Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn durch sie ist das Königreich der Hölle."
Die Menge antwortete im Chor:
"Gepriesen sei Satan, denn er ist der Herr über alles. Er ist der Herrscher der Finsternis. Verdammt sei Gott, denn er ist der Herr über nichts."
Der Hohepriester legte die Auserwählte auf den Altar zurück, befahl ihr, aus dem Becher zu trinken, den er ihr hinhielt.
Gehorsam tat sie es. Der Becher fiel ihr aus der Hand. Der Wein, den sie getrunken hatte, machte sie schwindlig, umnebelte ihre Sinne.
Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Jetzt öffnete der Priester das weiße Leinentuch und begann mit dem teuflischen Ritual.
Als sie den ersten Schnitt des Dolches spürte, floh sie entsetzt, leise wimmernd, ihrem geschändeten Körper.
Auf dem Altar
Weitere Kostenlose Bücher