Lycana
Leopold stemmte sie auf. Eine steinerne Schräge fiel in eine schmale Kammer ab. Sie war so glatt und steil, dass man, einmal ins Rutschen gekommen, sicher nicht wieder emporklettern konnte. Zumindest schien dies für einen Menschen unmöglich zu sein. Die Kammer selbst war recht hoch und schmal und fügte sich daher von außen und innen unsichtbar in die massive Außenwand ein. Alisa kroch ein Stück in die Schräge hinab, während Luciano ihre Fußknöchel festhielt.
»Und? Was siehst du?«
»Nur diesen tiefen, schmalen Raum. Es riecht ziemlich streng. Ich frage mich, wozu dieses Versteck diente.«
»Viele Burgen haben solche Verstecke«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Luciano erschrak so heftig, dass er Alisas Fußknöchel losließ. Mit einem Aufschrei rutschte sie kopfüber die Rampe hinunter und schlug hart auf den Boden der Kammer.
»Verflucht, Luciano!«, schimpfte sie, als sie sich aufrappelte und sich alten Fledermausmist von den Kleidern klopfte. Sie versuchte, die Wände zu erklimmen, doch sie waren sehr sorgfältig geglättet worden, sodass ihre Finger keinen Halt fanden.
»Und, wie gefällt dir dein neues Zuhause?«, rief Franz Leopold zu ihr hinunter.
»Dunkel und gemütlich«, gab Alisa zurück. »Zumindest sehr nachhaltig vor dem Sonnenlicht schützend.«
»Deshalb haben es die ersten beiden Lycana, die hier wohnten, auch als ihr Schlafquartier benutzt«, sagte Ainmire, der die drei so erschreckt hatte. »Doch dann kamen Cameron und Taber dazu und Áine, Crogher und Maura, und so zogen sie in die kleinen Kammern neben der Halle.«
»War Gareth der erste Lycana, der sich hier niederließ?«, wollte Franz Leopold wissen.
»Ja, Gareth und Mabbina haben dieses Versteck benutzt, denn hier konnten sie sicher sein, dass kein zufälliger Besucher sie bei Tag entdeckt. Heute haben wir mit Taras Hilfe einen Bann um die Mauern der Burg gezogen, der Menschen in Furcht und Schrecken versetzt und sie von hier fernhält.«
»Aber zu welchem Zweck wurde die Kammer errichtet? Die Erbauer konnten ja nicht ahnen, dass sie ein paar Vampiren später gute Dienste leisten würde«, sagte Luciano.
Ainmire schmunzelte. »Nein, so weitsichtig waren die O’Flahertys sicher nicht. Wir vermuten, dass sie sie als geheimen Kerker nutzten. Hier oben in der Halle wurde ja Gericht gehalten, und ab und zu endete ein Verfahren wohl damit, dass der Gefangene auf Nimmerwiedersehen in der Kammer verschwand.«
»Und dann?«, rief Alisa aus der Tiefe, die Ainmires Worten mit Interesse gelauscht hatte.
»Dann hat der Hausherr sie vermutlich verhungern lassen und sich noch eine Weile an ihrem immer schwächer werdenden Wehklagen ergötzt.«
»Welch reizende Zeitgenossen!«, rief Franz Leopold.
»Gareth erzählte mir, er habe einige Knochen aus dem Versteck getragen, ehe er sich sein Lager dort einrichtete.«
Und wie ist er hier wieder herausgekommen?, fragte sich Alisa ratlos. Ob er sich jeden Abend in eine Fledermaus verwandelt hatte? Leider war ihr dieser Ausweg nicht möglich. Obwohl es sie ärgerte, musste sie die anderen um ein Seil bitten, um wieder hinaufzukommen.
»Wie geht es Áine?«, fragte Alisa, als sie wieder oben in der Halle stand.
»Unverändert. Aber manches Mal kehrt ihr Geist zurück und sie erkennt ihre Umgebung. Ansonsten murmelt sie immer etwas von Werwölfen. Kein Wunder, so wie diese Bestien sie zugerichtet haben.« Er ballte die Fäuste und Wut trat in seinen Blick. »Das werden sie uns büßen!«
Alisa, Franz Leopold und Luciano stiegen die Wendeltreppe mit ihren unregelmäßigen Stufen hinunter bis in die große Lagerhalle hinter dem Wachraum, in dem noch immer ein paar rostige Waffen herumlagen. Jemand hatte Áines Kiste aufgeklappt. Zaghaft traten die drei Vampire näher und betrachteten die Gestalt, halb Mensch, halb Wolf, die reglos mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Alisa kam es vor, als seien ihre Züge ein wenig menschlicher geworden, wenn auch das Gesicht noch immer von Fell bedeckt war. Seitlich an Wange und Hals waren Narben zu erkennen, die jedoch älteren Datums zu sein schienen. Alisa gab den Jungen einen Wink, sich zurückzuziehen. Offensichtlich war die Vampirin nicht bei Bewusstsein.
»Was wollt ihr?«, knurrte eine tiefe Stimme.
Für einen Moment war sich Alisa nicht sicher, wer gesprochen hatte, doch da öffnete Áine die Augen. Sie waren von intensivem Grün und musterten sie überraschend aufmerksam. Verwirrt schien der Geist, zu dem dieser Blick gehörte,
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