Lyonesse 1 - Herrscher von Lyonesse
»Du hast meinen Befehl mißachtet. Was auch immer dein Grund dafür sein mag, er ist bei weitem nicht genügend!«
Leise erwiderte Suldrun: »Ihr seid mein Vater, ist Euch denn nicht an meinem Glück gelegen?«
»Ich bin König von Lyonesse. Was für Gefühle auch immer ich dir gegenüber gehegt habe, du hast sie verjagt, als du meinen Wünschen, die dir wohl bekannt sind, nicht willfuhrst. Und nun finde ich dich hier in Gesellschaft eines namenlosen Bauernlümmels. Sei es! Mein Zorn ist nicht gemindert. Du wirst in den Garten zurückkehren und dort bleiben. Geh!«
Mit hängenden Schultern schlich Suldrun zur Hinterpforte und hinunter in den Garten. König Casmir wandte sich um und taxierte Aillas. »Deine Vermessenheit ist erstaunlich. Du wirst viel Muße haben, in dich zu gehen und darüber nachzudenken. Zerling! Wo ist Zerling!«
»Majestät, hier bin ich!« Ein stämmiger, breitschultriger Mann mit einem Kahlkopf, einem braunen Bart und runden Glotzaugen trat vor: Zerling, König Casmirs oberster Henker, der am meisten gefürchtete Mann von Lyonesse nächst dem König selbst.
König Casmir flüsterte Zerling etwas ins Ohr.
Zerling legte Aillas einen Strick um den Hals und führte ihn über den Urquial hinter den Peinhador. Im Schein des Halbmondes löste er den Strick und schlang ein Seil um Aillas' Brust. Dann hob er Aillas über eine steinerne Einfassung und senkte ihn in ein tiefes Loch hinab: tief hinunter, immer tiefer. Endlich spürte Aillas Boden unter den Füßen. Mit einer knappen Geste der Endgültigkeit ward zuletzt das Seil auf ihn herabgeworfen.
Kein Laut war in der Dunkelheit zu hören. Die Luft roch nach modrigem Stein und menschlichen Ausscheidungen. Fünf Minuten lang stand Aillas da und starrte den Schacht hinauf. Dann tastete er nach einer der Wände: Sie befand sich in einer Entfernung von etwa sieben Fuß. Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes, Rundes. Er bückte sich und fühlte einen Schädel. Er tastete sich seitwärts weiter und setzte sich mit dem Rücken zur Wand auf die Erde. Nach einer Weile wurden ihm die Lider schwer, und er wurde schläfrig. Er kämpfte, so gut er konnte, gegen den Schlaf an, aus Furcht vor dem Erwachen ... Schließlich schlief er ein.
Er wachte auf, und seine Befürchtungen waren gerechtfertigt. Als die Erinnerung zurückkehrte, stieß er vor Ungläubigkeit und Verzweiflung einen gellenden Schrei aus. Wie konnte eine solche Tragödie nur möglich sein? Tränen schossen ihm in die Augen; er barg den Kopf in den Armen und weinte.
Eine Stunde verstrich, während er in tiefstem Elend dahockte. Licht sickerte in den Schacht. Nun war er in der Lage, die Ausmaße seiner Zelle zu erkennen. Der Boden war eine kreisförmige Fläche von etwa vierzehn Fuß Durchmesser, belegt mit schweren Stein-platten. Die steinernen Wände erhoben sich senkrecht auf eine Höhe von sechs Fuß, um sich dann zu dem eigentlichen Schacht zu verjüngen, dessen Öffnung sich ungefähr zwölf Fuß über dem Boden der Zelle befand. Vor der gegenüberliegenden Wand lag ein Haufen Knochen und Schädel. Aillas zählte zehn Schädel, und gewiß waren noch weitere unter dem Knochenhaufen verborgen. Nicht weit von der Stelle, wo er saß, lag noch ein Skelett: offenbar der letzte Insasse der Zelle.
Aillas stand auf. Er ging zur Mitte der Kammer und spähte den Schacht hinauf. Hoch oben sah er einen Ausschnitt blauen Himmels, so luftig, klar und frei, daß ihm erneut die Tränen kamen.
Er besah sich den Schacht. Sein Durchmesser betrug vielleicht fünf Fuß. Er war in rohen Stein getrieben und erhob sich sechzig oder gar siebzig Fuß – eine genaue Schätzung war schwierig – über den Punkt, an dem er in die Kammer mündete.
Aillas wendete sich ab. Auf die Wände ringsum hatten frühere Insassen Namen und traurige Sprüche geritzt. Direkt über dem Skelett des letzten Insassen standen – offenbar von ihm selbst in die Wand geritzt
– zwölf Namen, angeordnet in einer Kolonne. Aillas, der zu niedergeschlagen war, um sich für irgend etwas anderes als sein eigenes Leid zu interessieren, schenkte den Namen keine weitere Beachtung.
Die Zelle war nackt. Das Seil lag in einem losenHaufen unter der Öffnung des Schachts. Neben dem Knochenhaufen bemerkte er die verrotteten Oberreste anderer Seile, Kleidungsstücke, Lederspangen und Gurte.
Das Skelett schien ihn aus seinen leeren Augenhöhlen anzustarren. Aillas schleppte es auf den Knochenhaufen und drehte den Schädel so, daß er auf die Wand
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