Macabros 033: Flucht in den Geistersumpf
deutlichen
›Ja‹.«
Griever ließ das Band eine halbe Minute lang weiterlaufen,
spulte es dann zurück und das deutlich gesprochene
›Ja‹, das er gefordert hatte, war unter starkem Rauschen zu
vernehmen.
»Ich suche jemand. Eine Frau. Ist es möglich, sie zu
sprechen?«
Eine Minute später erfolgte die Antwort der unbekannten
Stimme. »Wer… ist es?«
»Meine Mutter.«
»Kann… sie… nicht hören…«
»Kannst du sie rufen?«
»Werde… versuchen…«
Die Art und Weise, in der dieser transzendentale Sprechverkehr
stattfand, war typisch. Die Stimmen, die sich aus einer jenseitigen
Welt meldeten, bedienten sich auf merkwürdige Art der
menschlichen Sprache.
Sie hielten sich nicht an die Grammatik, manches teilten sie in
einem rätselhaften Sprechgesang mit, anderes wieder mischten sie
mit fremden Wörtern einer unbekannten Sprache. Manchmal wurden
Antworten lapidar knapp mit nur einem oder zwei Worten
wiedergegeben.
Griever und Unstett sahen sich an. Beide Männer waren erregt.
Unstett ließ sich seine Unruhe nicht anmerken. Obwohl Griever
ständig diese Kontaktversuche unternahm, zog ihn das Geschehen
jedesmal neu in seinen Bann.
Das Band lief um den Jenseitigen die Möglichkeit zu geben,
eine Meldung zu machen. Drei Minuten warteten Griever und Unstett ab.
Dann wurde das Band zurückgespult.
Stille! Aus einer endlosen Ferne meldeten sich wieder viele
Stimmen. Jemand rief: »Da… sie… Anna…«
Dann eine Stimme, die nicht identisch war mit der, die bisher auf
Carel Unstetts Fragen antwortete.
»In der Nähe… sie kommt nicht…«
Diese Stimme kam ihm bekannt vor. Wo hatte er sie nur schon
gehört?
Er zermarterte sich das Gehirn. Plötzlich fiel es ihm wieder
ein, und es lief ihm dabei eiskalt den Rücken hinab…
Das war die Stimme der alten Nachbarin, die lange Zeit im gleichen
Haus auf der gleichen Etage mit ihnen wohnte und starb, als er etwa
fünfzehn Jahre alt gewesen war!
*
Unstett konnte sich genau an die freundliche alte Frau erinnern,
bei der er viele Stunden verbrachte und die ihm viel aus ihrer Jugend
erzählt hatte. Oft hatten sie in uralten Alben geblättert.
Die Nachbarin hatte als junge Frau die ganze Welt bereist und war
eine bekannte Opernsängerin gewesen.
Diese Frau meldete sich…
»Andrea!« entfuhr es Carel Unstett. »Andrea! Du
bist hier?«
»Verwunderlich? Wir sind alle hier!« Leises Lachen
erfolgte. »Das ist normal. Franz und Erika, die
Schwieger-Kinder, mit denen du befreundet warst. Sie lassen dich
grüßen.«
»Warum sprechen sie nicht selbst mit mir?« Er
stieß die Worte förmlich heraus.
»Weiß nicht…«
»Und Anna – auch da…«, meldete sich
plötzlich die geschlechtslose Stimme wieder und schob sich in
den Vordergrund.
Die alte Opernsängerin meldete sich nicht wieder, der Kontakt
war plötzlich abgebrochen.
Anna! Der Name seiner Mutter! Jetzt wurde er schon zum zweiten Mal
genannt.
»Ich möchte sie sprechen.«
»Geht nicht.«
»Warum nicht?«
Keine Antwort…
»Wie geht es ihr?« Ursprünglich wollte er etwas
anderes fragen aber er war so verwirrt, daß ihm im Moment
nichts Besseres einfiel. Er wollte den Kontakt – von sich aus
jedenfalls – nicht unterbrechen.
»Gut.«
»Hat sie noch Schmerzen?«
»Hier drüben… nicht mehr.«
»Wo befindet sie sich jetzt? Wie sieht sie aus?«
»Immer nur eine einzige Frage stellen«, kam da Frank
Grievers Ermahnung. »Anders wird die Sache nur
erschwert.«
Es erfolgte keine Reaktion. Das einzige, das sie hörten, war
ein Murmeln und Rauschen, als befänden sich zahllose Menschen in
der Nähe eines unsichtbaren Mikrofons.
»Schön hier«, sagte unverhofft eine Stimme, die
sich bisher nicht gemeldet hatte. »Schmerzen… nur in der
anderen Welt.«
Sie sang die Worte.
»Wie sieht meine Mutter jetzt aus?!« Unstett ließ
nicht locker. »Wenn ich sie schon nicht sprechen kann, so
erzählt mir mehr über sie.«
»Es geht ihr gut. Viele Grüße… und
Vorsicht!«
Es waren die letzten Worte der Jenseitsstimme.
»Vorsicht?« echote Unstett. »Vorsieht –
wovor?«
Keine Antworten mehr. Das Bandrauschen blieb konstant. Der
Jenseitsfunk war unterbrochen.
»Hallo? Hallo? Hört ihr mich noch? Warum antwortet ihr
nicht?«
Unstett lauschte. Niemand meldete sich mehr.
Griever zuckte die Achseln. »Auch das ist typisch«,
meinte er. »Man kann sie nicht zwingen. Sie brechen
plötzlich die Verbindung ab. Man kann sie bitten wiederzukommen.
Es wird bestimmt ein nächstes Mal geben.
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