Macabros 114: Kaphoons Grab
dieses Heiligtum begeben hatten.
Keine Klinke und kein Schloß…
Noch ein Schritt auf das Tor zu. Was würde geschehen?
Rani hielt den Atem an, als die beiden Torhälften lautlos
auseinanderglitten und ihm den Weg in den riesigen Saal
freigaben.
Der Inder war auf einen Überraschungsangriff eingestellt und
hielt die Hand schon in die Höhe, um die wirkungsvolle
Dämonenmaske sofort überzuziehen.
Aber da war niemand, den er fürchten mußte.
Das Bild, das er schon kannte, bot sich seinen Augen.
Da waren die aufrecht stehenden, mannsgroßen Gestalten.
Hunderte, Tausende… sie standen wie die Soldaten in Reih’
und Glied beisammen und bildeten lange Kolonnen. Männer und
Frauen, die an einem Festzug zu Ehren ihres Herrschers teilzunehmen
schienen.
Soldaten und fröhlich dreinschauende Mädchen…
Statuen aus Keramik, Marmor oder Elfenbein. Tausende von
Künstlern mußten hier jahrelang Tag und Nacht gearbeitet
haben, um die Arbeit zu vollenden. Das Faszinierende und Einmalige
nämlich war, daß man nicht nach einer vorgefertigten Form
eine Figur nach der anderen gegossen hatte – sondern daß
jede einzelne ein Original war, unverwechselbar, typisch,
persönlich…
Rani Mahay überschritt die Schwelle. Seine Blicke gingen
über die scheinbar endlosen Reihen und Abordnungen hinweg. Hier
war ein ganzes Heer aufgestellt, zur Erinnerung an eine große
Zeit in dieser Stadt, zur Erinnerung an die Soomans, die einst den
Sternenkristall suchten und auch fanden…
Unverändert?
Er mußte seinen ersten Eindruck revidieren.
»Danielle…«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Sieh genau hin… fällt dir etwas auf…?«
Auch sie merkte im ersten Moment die Veränderung nicht.
Doch dann nickte sie. »Es fehlen welche… Rani…
zwischen den Gruppen… gibt es Lücken…«
»Also war in der Zwischenzeit, während wir in den
Wahnsinns-Kugeln eingeschlossen waren und dann nach Björn und
den anderen suchten – jemand hier…«
»So sieht es aus… Offenbar handelt es sich um den
gleichen, der uns angelockt und nun entführt hat. Und wir wissen
noch immer nicht, wohin…«
Sie bewegten sich wie zwei aufmerksame, zurückhaltende Kinder
zwischen den hunderten von Gestalten.
Dies Panoptikum mit Gestalten aus der Vergangenheit weckte ihr
Interesse und ihre Neugier.
Rani und Danielle näherten sich einer Lücke. Hier
fehlten zwei Krieger. Es gab jedoch keine Spuren, die bei der
Entfernung der Statuen den Verdacht auf Gewalt aufkommen
ließen.
Danielle de Barteaulieé ging zwischen den mannsgroßen
Gestalten entlang und nahm sie näher in Augenschein.
Einige von ihnen waren mit farbenprächtigen Uniformen
bekleidet. Aufgemalte Uniformen. Auch die Kleider und
weitschwingenden Röcke der Frauen und Mädchen waren
gemalt.
Die unheimliche Stille war ebenfalls etwas, das sie vom erstenmal
her nicht kannten.
Der wispernde Ruf ›Amaltalgonn‹, der die Säle
erfüllt hatte, was verstummt…
Was war geschehen?
Plötzlich zog Danielle geräuschvoll die Luft durch die
Nase.
»Rani!« rief sie erschrocken.
Mahay wirbelte herum.
»Schau’ dir das an! Die Farbe an ihren Gewändern
und Uniformen – wirkt teilweise seltsam blaß, als
würde sie ausbleichen…«
Sie hatte recht.
Wenige Schritte weiter machten sie eine andere seltsame
Entdeckung.
Da standen zwei, drei Statuen, die aussahen wie Rohlinge. Bleich,
marmorhaft weiß… als hätte man sie eben erst aus dem
Atelier des Meisters hergeschafft und nun schienen sie darauf zu
warten, mit Farbe angemalt zu werden.
Ein drittes war zu sehen, etwas, das sie beide entsetzte.
Die weiße Haut der Statue, die schräg neben Danielle
stand, veränderte sich erneut.
Rote Punkte zeigten sich auf der porösen Oberfläche.
Rani Mahay zuckte zusammen.
Die Absonderungen an dem bleichen Leib nahmen zu und zeigten sich
auch an den Statuen in den anderen Reihen.
Aus hunderten von steinernen Poren sickerte der rote Saft hervor.
Er kam auch aus den Augenwinkeln der Steinernen.
Mahay hielt vorsichtig den’ Finger daran und tupfte etwas von
der klebrigen Flüssigkeit darauf.
»Blut!« murmelte er entsetzt.
Die Statuen schwitzten und weinten Blut!
*
Der blonde Mann, der schlafend gegen den blutwarmen Kristallfelsen
lehnte und ein Schwert auf den Knien liegen hatte, atmete tief und
ruhig. Er war erschöpft, und sein Körper forderte diese
Erholungspause.
Dennoch sackte er nicht so tief weg, daß eine Kanone neben
ihm unbemerkt hätte abgeschossen werden können.
Das
Weitere Kostenlose Bücher