Mach's falsch, und du machst es richtig
beginnt mit dem Zitat aus einem Brief, den die
Frankfurter Zeitung
ihm geschrieben hat. Die Redaktion wäre sehr erfreut, heißt es darin, wenn sich Friedell an einer Weihnachtsumfrage unter Schriftstellern beteiligen und die Eigenart seines Landes schildern würde. «Wir sind überzeugt, daß Ihr Beitrag eine Perle werden wird.» Kaum hat er den Brief erhalten, schreibt Friedell an seinen Freund und Schriftstellerkollegen Hanns Sassmann, ihn habe noch selten eine Arbeit derart interessiert wie diese, weshalb Sassmann sich «sofort an die Arbeit» an dem Zeitungsfeuilleton machen solle. «Aber bitte, nicht zu kurz, sonst heißt es gleich wieder, daß wir nur Plaudereien schreiben.» Dann beginnt sich die Geschichte rund um den geplanten Text zu verselbständigen: Erst bleibt unklar, welches Thema behandelt werden soll, bis plötzlich der Zahlkellner aus dem Café Demimonde Auskunft darüber gibt – warum ausgerechnet er, bleibt ungeklärt. Dann erzählt Sassmann überall in Wien herum, Friedell sei von einer großen deutschen Tageszeitung um einen Beitrag gebeten worden und er wiederum von Friedell, diese Aufgabe zu übernehmen – bis ihn der Brief eines «städtischen Marktkommissärs» namens Franz Zehntbauer erreicht. Sassmann möge ihn bei der
Frankfurter Zeitung
protegieren, er sei doch deren «Hauptmitarbeiter», das habe er in seinem Restaurant erfahren. Um das bestellte Feuilleton freilich kümmert sich währenddessen niemand, weder Friedell noch Sassmann, woran auch ein flehentlicher Brief und ein durch Übermittlungsprobleme etwas verklausuliertes Telegramm aus Frankfurt nichts ändern können: «Dringendes Telegramm an Egon Friedell. Rasute blifta settmil hapta hapta 1 / 2 . Trankfurter Leitung.» Nichts davon nimmt Friedell zur Kenntnis. Vielmehr beschwert er sich bei seinem Freund: «Weihnachten steht vor der Tür, und Du hast mir noch immer nicht die englische Seife für Lina besorgt. Echt österreichisch!»
Schließlich muß Friedell akzeptieren, daß es mit seinem Feuilleton nichts geworden ist: «Zu meiner Bestürzung erfahre ich im Café Eden, daß Du den Beitrag für die ‹Frankfurter Zeitung› richtig verschlampt hast. Damit hast Du mir ungemein geschadet; denn das hätte für mich der Anfang einer dauernden Mitarbeit werden können.» Sassmann reagiert erbost: Was er denn noch alles von ihm haben wolle? Friedell, bislang in wichtigen Gesellschaftskreisen unbekannt, sei mittlerweile die «populärste Persönlichkeit von Wien», weil er die Zeitung mit ihrem Wunsch nach einem Text habe aufsitzen lassen. «Und das verdankst Du mir.» Worauf ihm Friedell, sichtlich beruhigt und mit dem Lauf der Ereignisse versöhnt, antwortet (und wir endlich bei jenem Punkt gelandet wären, der die Geschichte in diesem Zusammenhang so erzählenswert macht): «Lieber Sassmann, in Österreich wird man eben nur zum großen Mann, wenn man etwas auffällig nicht tut. Kaiser Josef hat unter größtem Aufsehen keine Reformen durchgeführt, Laudon hat unter allgemeiner Aufmerksamkeit Friedrich den Großen nicht besiegt, und Lueger hat unter ungeheurem Zulauf nichts für Wien geleistet. Für die ‹Frankfurter Zeitung› haben schon viele nicht geschrieben, aber keiner ist dadurch der Mittelpunkt Wiens geworden. Weil die anderen eben alle kein Talent hatten. Zumindest kein österreichisches Talent. Friedell.» Was durch einen Bescheid der «Steuerbehörde für den 18 . beziehungsweise 19 . Bezirk, Wien, Niederösterreich» eindrucksvoll bestätigt wird, verlangt sie doch Jahre nach dem Ereignis von «Dr. Egon Friedell, Chefredakteur der ‹Frankfurter Zeitung›» «vorauszuzahlende Nachtragssteuern» in noch festzulegender Höhe.
Wir würden Friedells Feuilleton über das Scheitern eines Feuilletons unrecht tun, wenn wir es nur als elegante Satire auf ein paar typische österreichische Eigenarten lesen oder als kleine paradoxe Spielerei (ist doch Friedells Feuilleton über das Scheitern seines Feuilletons für die
Frankfurter Zeitung
1926 in ebendieser
Frankfurter Zeitung
erschienen) – und nicht auch als Vorschlag, uns die vertrackte Sache mit dem Nichthandeln etwas genauer anzusehen. Freundlicherweise formuliert Friedell im abschließenden Brief an seinen Freund Sassmann zwei Gedanken, die sich meines Erachtens bestens dazu eignen, den Überlegungen eine erste Richtung zu geben. Zum einen hält Friedell das Nichtstun für einen weitverbreiteten menschlichen Hang, der dennoch (oder gerade deswegen?) kein großes
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