Madame Zhou und der Fahrradfriseur
sollte man, damit die Arbeiter ihre Rechte einfordern können, eine Gewerkschaft gründen. Wir haben 170 Leute, und ich sagte ihnen: ›Vereinigt euch in der Gewerkschaft!‹ Aber sie wollen nicht. Sie opfern, ohne zu zögern, 100 Yuan für ihre Gottheit im Tempel, aber 5 Yuan Mitgliedsbeitrag für die Gewerkschaft sind ihnen zu viel. ›Wir gehen in die Gewerkschaft, Chef, wenn Sie unseren Mitgliedsbeitrag bezahlen!‹ So sind sie, meine chinesischen Mitstreiter. Und viele leben immer noch nach den Regeln des Konfuzius. Sie ehren die Alten. Selbst Polizisten,die wahllos prügeln, trauen sich nicht, alte Menschen zu schlagen. In der Nähe unserer Gaststätte befindet sich die UN-Ver tretung . Manchmal halten davor Autos aus der Provinz. Die aus den Dörfern entsandten Überbringer von Protesten oder Petitionen an die UN sind in der Regel alte Menschen. Sie werden von der Polizei respektvoller behandelt als junge Abgesandte. Einer Oma halfen die Polizisten fürsorglich in das Polizeiauto und gaben ihr, weil es draußen sehr heiß war, Tee aus der Thermoskanne. So kann China auch sein.«
Ich frage ihn, ob er trotz seiner erfolgreichen Unternehmungen in China Sehnsucht nach Deutschland hat. Er antwortet nicht sofort, denn er hat bemerkt, dass wir uns an einen kleinen Tisch setzen müssen, damit Platz für andere Gäste wird. Die deutsche »Anlegestelle« füllt sich zur Mittagszeit bis auf den letzten Stuhl. Vor allem mit Chinesen. »Inzwischen ist es ein Statussymbol für junge neureiche Chinesen, nicht nur bei IKEA einzukaufen, sondern auch in internationale Restaurants, vor allem in deutsche und italienische, essen zu gehen.«
Ob er nach Deutschland zurück möchte, frage ich noch einmal.
»Nein! Hier kenne ich mich aus. Ich weiß sofort, was in China politische Agitation ist. Damit komme ich zurecht. Ich kann Agitation und Realität unterscheiden und mich danach richten. Aber in Deutschland begreife ich das immer weniger. Die Selbstdarstellung, die Scheinheiligkeit und die Lügen der Politiker kotzen mich an. Talkshow-Leute quatschen inbrünstig und mit geheuchelter Überzeugung das blödeste Zeug und fühlen sich trotzdem wie der Nabel der Welt. Dazwischen Kochshows, Unterhaltung und Krimis …
Mal ehrlich: Ich wäre zwar nicht – weil ich mir nie etwas zuschulden kommen ließ – nach der Wende wie der Streletz oder der Keßler vor Gericht gestellt und ins Gefängnis gesteckt worden. Aber wahrscheinlich wäre ich als ehemaliger DDR-Mi litärattaché heute in Deutschland ohne Job. Vielleicht auf Hartz IV und könnte in der Platte in Berlin-Marzahn mit einem Kissen unterm Arm den ganzen Tag aus dem Fenster glotzen.«
In Peking sei er zwar ein Ausländer, aber kein sozial abgestempelter.
»Und ich bin froh, dass die Chinesen die Ausländer inzwischen nicht nur tolerieren. Jahrhundertelang haben sie sich vom Ausland abgeschottet. Um 1425 besaßen sie die größte Expeditionsflotte der Welt, aber danach untersagte Kaiser Honxi bei Androhung strenger Strafen den Bau seetüchtiger Schiffe und die Fahrt über die Meere. 1449 verbot Kaiser Zhengtong bei Todesstrafe jeglichen Handel mit dem Ausland. Dem Land der Mitte genügte es, selbst der Mittelpunkt der Erde zu sein. Bis die europäischen Missionare und mit ihnen die Opium-Händler kamen …«
Nein, ich möchte keinen Geschichtsunterricht in der »Anlegestelle«.
Später recherchierte ich und begriff, dass das kaiserliche Verbot der Seefahrt und des Handels mit anderen Ländern wirklich einer der vielen Schlüssel ist, um Chinas Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen.
Der kaiserliche Obereunuche und Admiral Zheng He war 1405 mit einer Armada von etwa 100 Schiffen und fast 30 000 Seeleuten, Astronomen, Soldaten, Ärzten und Geologen von Nanking zu seiner ersten Expedition aufgebrochen. Seine Flagg- und Schatzschiffe waren Neun (!)-Master mit 12 Segeln und in der Regel über 100 Meter lang und 50 Meter breit. Jeweils 200 Seeleute mussten im Bauch der riesigen Schiffe die 6 Meter langen Ruderbretter bewegen. Bis 1433 kreuzte der chinesische Admiral Zehng He bei seinen 7 Expeditionen mit der mächtigsten Flotte der Welt, die erst 500 Jahre später in der Tonnage von der englischen übertroffen worden ist, vor den Küsten von Afrika und Asien. Er ankerte vor Indonesien, Ceylon, Indien, erreichte Mekka …
Und Zheng He soll, so behauptete es 2004 ein englischer Forscher auch vor Kolumbus Amerika entdeckt haben. (Der war 87 Jahre nach dem Chinesen nicht mit
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