Madita
böse.
»Willst du denn die ganze Nacht wach bleiben?«
»Apselut«, sagt Lisabet.
Aber in der nächsten Minute rollt sie sich auf den Bauch und ist eingeschlafen.
Noch nie hat sich Madita im Stockfinstern angezogen. Die
Petroleumlampe anzuzünden wagt sie nicht, Lisabet könnte
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aufwachen, oder Mama könnte einen Lichtstrahl durch die
Türritze schimmern sehen. Aber zum Glück hat Madita heute abend ihre Sachen hübsch ordentlich auf den Stuhl neben
ihrem Bett gelegt, und rasch fährt sie in das Hemd, das Leib-chen und die Hose. Dann kommt ein banger Augenblick – da
ist nur ein Strumpf. Aufgeregt sucht sie nach dem anderen. Mit einem nackten Bein zu Abbes Ururgroßvater zu kommen, der
obendrein noch ein Graf ist, wie sähe das aus. Endlich findet sie den Strumpf unter dem Stuhl, und da stehen auch die
Stiefel. Im Dunkeln ist das Zuschnüren schwer, aber sie knotet 96
die Bänder zusammen, so gut es eben geht. Jetzt fehlt nur noch das Kleid und die dicke Strickjacke, die sie immer an-zieht, wenn sie draußen spielt.
Madita beißt die Zähne zusammen – jetzt kommt das Aller-
schwerste. Sie muß die Kinderzimmertür aufmachen und quer über die Diele bis zu dem kleinen Fenster schleichen, das auf das Verandadach hinausgeht, und das muß so leise geschehen, daß Papa und Mama nichts merken. Sie sitzen unten im Wohnzimmer. Als Madita die Tür vorsichtig öffnet, hört sie ihre Worte wie ein fernes Gemurmel.
Ohne Zwischenfall kommt sie glücklich über den Flur. Das
Fenster kriegt sie auch auf, aber als sie es öffnet, quietscht es laut und abscheulich. Unten im Wohnzimmer wird es plötzlich ganz still, und Madita bleibt voller Angst stehen. Was wird jetzt passieren? Aber es passiert gar nichts weiter, als daß Mama anfängt, Klavier zu spielen. Sie spielt eine liebe, trauliche Melodie. Madita hört die leisen Töne noch, als sie schon über das Verandadach kriecht, und sie spürt ein so saugendes
Gefühl im Innern. Alles, was lieb und traulich ist, läßt sie jetzt hinter sich. Vor ihr liegen nur Finsternis und Gefahr.
Es ist November. Ein dunkler, kalter Novemberabend, viel
unheimlicher, als sich Madita ihn vorgestellt hat. Der Wind heult durch die Bäume. Sie haben das Laub verloren, das
sonst immer so freundlich rauschte, und klappern jetzt mit den Zweigen, als wollten sie sie erschrecken. Dann steht Madita im Dunkeln vor Abbes Fenster. Sie sieht Nilssons in der Küche sitzen, Abbe und seine Mutter und seinen Vater. Wie gern
würde sie jetzt zu ihnen hineingehen und dort sein, wo Licht und Wärme ist, aber Abbe hat gesagt, sie soll vor dem Fenster warten und wie ein Käuzchen rufen. Madita ist gehorsam und tut es gleich. Es klingt so unheimlich, daß sie es selber mit der 97
Angst bekommt und Tante Nilsson da drinnen zusammen-
schrickt. Aber auch in Abbe kommt Leben. Er springt vom
Stuhl auf und stülpt sich die Mütze auf den Kopf. Jetzt ist er schon an der Tür. Madita sieht ihn im matten Schein der
Petroleumlampe – für einen Grafen sieht er eigentlich nicht so besonders fein aus. Die Hose ist an den Knien voller Flicken, und die Strickjacke hängt wie ein Sack um ihn herum. Und
mager und spillrig ist er. Madita hat immer geglaubt, Grafen wären dicker und auch besser gekämmt. Aber sie kennt keinen anderen Grafen als Abbe, deshalb weiß sie das nicht so genau. Abbes Haar sieht aus wie ein Reisigbesen, und unter der Mütze gucken die Strähnen hervor, aber er grinst zufrieden vor sich hin und findet wohl selber, daß er aussieht wie ein Graf.
Er entdeckt Madita im Dunkeln zwischen den Apfelbäumen
und kommt rasch auf sie zu.
»Jetzt wird’s was«, sagt er. »Jetzt wird’s was, wenn nur mein Ururgroßvater geschluckt hat, daß es zwölf ist.«
»Ja, jetzt wird’s was«, sagt Madita schaudernd. »Hast du ihm den Wecker hingestellt?«
»Na klar! Und die Klingel hab ich auch gestellt, damit der Alte nicht etwa verpennt. Er ist’s ja nicht gewohnt, um diese Zeit aufzuwachen.«
Weit hinten in Nilssons Garten, ganz unten am Fluß, liegt das Waschhaus. Ein schmaler, ausgetretener Pfad führt dorthin.
Abbe hat eine Taschenlampe mitgenommen, und damit leuch-
tet er jetzt, damit sich Madita nicht den Kopf an einem bemoo-sten Apfelbaum stößt. So nett und besorgt ist Abbe!
»Darf ich dich an die Hand fassen?« fragt Madita. »Ich seh dann besser.«
»Ach nee«, sagt Abbe, »das ist aber komisch.«
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Er nimmt Madita an die Hand, und sie ist kalt und zittert ein
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