Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Dauer sein, das war für Marshall so sicher wie das Amen in der Kirche. Er wusste, es würde sie zerreißen, wenn sie die Wahrheit erfuhr. Es würde sie umbringen.
Er sperrte einen Schrank am Empfang auf, öffnete den Praxissafe, den seine Sprechstundenhilfe verwaltete, und entnahm ihm die Schlüssel für die Medikamentenschränke, die sich am Ende des Flurs befanden. Die Praxis war zwar nicht so üppig mit Arzneimittelvorräten ausgestattet wie andere, doch immerhin hatten sie die wichtigsten verschreibungspflichtigen Medikamente vorrätig. Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Antidepressiva, Analgetika, Amphetamine, Schmerzmittel. Die Bestände der meisten Arzneien waren gerade aufgefüllt worden, und wenn er es geschickt anstellte, konnte er dafür sorgen, dass Mia am Sonntag in einer Verfassung war, die es ihr erlaubte, mit der schlechten Nachricht umzugehen.
Und danach? Sein Kopf fühlte sich dumpf an. Großer Gott, er wusste es auch nicht. Er wusste nur, dass sie ihr Leben lang auf diesen Tag gewartet hatte und dass sie, als es das letzte Mal nicht zu einem Treffen gekommen war, fast darüber verrückt geworden war. Sie hatte sich die Haare abgesäbelt und war in einen tranceartigen Zustand verfallen. Doch dieses Mal würde es noch schlimmer werden.
Benommen öffnete er den ersten Arzneimittelschrank, griff hier nach einer Schachtel und dort nach einem Fläschchen – über die Verabreichungsmenge und etwaigen Wechselwirkungen würde er später nachdenken –, hielt dann jedoch inne. Stirnrunzelnd spähte er in den Schrank. Dann öffnete er einen zweiten Schrank und bemerkte dort das Gleiche. Im dritten Schrank ebenfalls. Marshall kratzte sich am Bart. Er konnte schwören, dass er erst gestern den Lieferschein für die letzte Bestellung unterschrieben hatte.
Er presste einen Finger an die Stirnfalte zwischen den Augen und zwang sich, nachzudenken.
Sarah Rittenhouse war nun schon seit Jahren seine Sprechstundenhilfe, und sie war bis auf ihn die Einzige, die Zugang zu den Schlüsseln hatte. Sie hatte bislang nie einen Fehler gemacht oder Arzneimittellieferungen offen am Empfang stehenlassen.
Sarah, eine Diebin? Das war ausgeschlossen.
Marshall legte die Tabletten zurück. Er musste mit seinen Kollegen und Sarah sprechen, bevor er die Mittel abzweigen konnte, die er für Mia benötigte.
Wenn jemand in der Praxis tatsächlich arzneimittelabhängig war, war das ein ernstzunehmendes Problem, doch Mias Wohlergehen stand an erster Stelle. Mia stand immer und ewig an erster Stelle.
Brad wartete auf dem Parkplatz eines großen Kinokomplexes: sechzehn Kinosäle, in denen nachmittags und abends Filme liefen. Um diese Tageszeit, am späten Nachmittag, war der Parkplatz allerdings so gut wie leer. Viele Nachmittagsvorstellungen waren schon zu Ende, und die Abendvorstellungen hatten noch nicht begonnen. Nur ein paar Personen waren unterwegs – Teenager, die Nachmittagskurse schwänzten, Singles und Rentnerehepaare, die zum Seniorentarif ins Kino gingen. Er hatte den reizenden Herrn Doktor hier mehr als einmal getroffen, um ein Baby im Tausch gegen harte Währung in Empfang zu nehmen. Sie hatten immer darauf geachtet, nicht im Radius der Überwachungskameras zu parken.
Doch an diesem Nachmittag gab es kein Baby. Und Brad hatte es eilig. Wenn die Ermittler herausfanden, dass Rosie schon ein Kind bekommen hatte – und das würden sie irgendwann tun –, kämen sie zu der logischen Schlussfolgerung, dass Rosie Russell deswegen aufgesucht haben musste. Und dann würde es nicht lange dauern, bis die Polizei die Akten der Stiftung unter die Lupe nehmen und einen besonders kritischen Blick auf OCIN – »Overseas Children in Need« – werfen würde, das für sämtliche Adoptionsverfahren aus dem Ausland zuständig war. Und für eine Handvoll illegaler im Inland.
Ein weißer BMW parkte schwungvoll in die Lücke vor ihm ein. Stephen Housley stieg aus, schnippte einen Zigarettenstummel auf den Boden und setzte sich zu Brad in den Wagen. Housley war ein schlanker, kleiner Mann Mitte fünfzig, dessen Tabakkonsum tiefe Falten in seinem Gesicht hinterlassen hatte. Seine Wangen waren stets gerötet und rauh, als sei er gegen sein Aftershave allergisch.
Housley arbeitete als Frauenarzt und Geburtshelfer im Spring Grove Hospital westlich von Baltimore. Doch einmal in der Woche übernahm er den Dienst an einer Klinik für einkommensschwache Frauen, und das hatte ihn und Brad, der damals noch als Unternehmensanwalt tätig
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