Maedchenjagd
Damen und Herren«, beschloss Fowler seine Ausführungen, »versprechen Sie mir, dass Sie sich die ganze Geschichte anhören, und verhindern Sie, dass es zu einer weiteren Tragödie kommt: der unrechtmäßigen Verurteilung eines unschuldigen Menschen.«
Als Fowler sich gesetzt hatte, sprach Lily in das Mikrofon. »Das Gericht vertagt sich bis morgen früh um neun Uhr.« Eine Weile blieb sie einfach sitzen und starrte mit leerem Blick in den Saal. Als die Anwälte ihre Prozessakten zusammenpackten, verließ sie schließlich die Richterbank.
Chris fuhr an drei Tagen in der Woche mit seinem eigenen Auto, um nach der Arbeit ins Fitnesstraining zu gehen. Sie warf einen Blick in sein Büro, doch er und seine Assistentin waren schon fort. Sie ging zu ihrem Büro und sah, dass auch Jeannie bereits nach Hause gegangen war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es halb sieben war. Normalerweise schloss sie die Sitzungen nicht so spät, aber heute war sie mit den Gedanken einfach nicht bei der Sache gewesen.
Nachdem sie den Aufzug in die Tiefgarage genommen hatte, wo ihr Volvo abgestellt war, stieg sie ins Auto und fuhr los. Plötzlich fiel ihr ein, warum sie während Silversteins Eröffungsplädoyer ständig an Shana hatte denken müssen. Ein paar der Eigenschaften von Noelle Reynolds besaß auch ihre Tochter. Nicht dass sie jemals eine Gewalttat verüben würde. Aber ihr Vater hatte sie verwöhnt und ein verzogenes Gör aus ihr gemacht. Sein Unvermögen, ihre Tochter ordentlich zu erziehen, hatte unter anderem zum Ende ihrer Ehe geführt. Immer hatte er Lily schlechtgemacht und damit ihrer Beziehung zu Shana irreparablen Schaden zugefügt. Und das Schlimmste dabei war, dass er es bewusst und in voller Absicht getan hatte.
Vor ihr staute sich der Verkehr, und Lily schaltete auf Autopilot. Ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Sie war gerade zur Oberstaatsanwältin in der Abteilung für Sexualverbrechen gemacht worden. Die Verbrechen waren so grausam und sie waren derart im Rückstand mit ihrer Bearbeitung, dass Lily Fünfzehn-Stunden-Tage hatte und kaum noch Zeit mit ihrer Familie verbrachte. Einer der Gründe, warum sie Richard Fowler sexuellen Avancen bei der Arbeit nachgegeben hatte, war, dass sie anderweitig gar keine Zeit hatte, ihn zu sehen.
Ein Tag würde ihr für immer im Gedächtnis bleiben. John war Trainer von Shanas Softballteam, und an diesem Tag hatte sie ein Spiel. Lily wurde bei der Arbeit aufgehalten und geriet dann in einen Stau im Berufsverkehr. Als sie endlich am Spielfeld des Gemeindezentrums ankam, war das Spiel fast vorbei.
1993
Ventura, Kalifornien
Lilys Absätze versanken im Staub, als sie sich hinter der Tafel mit dem Spielstand hinstellte und die Finger durch den Drahtzaun steckte. Shana war Pitcher, und sie hatten kurzen Blickkontakt, als Shana ihren rechten Arm für den Wurf nach hinten schwang. Die anderen Eltern auf der Tribüne trugen Daunenjacken und schlürften dampfenden Kaffee aus Styroporbechern. Lily legte sich die Arme um den Oberkörper und versuchte, sich zu wärmen.
Ihre Tochter hatte Charisma, anders war die Popularität, die sie seit dem ersten Schuljahr besaß, nicht zu beschreiben. Sie war ein Energiebündel, schön und schlagfertig, und für Lily war sie das bezauberndste kleine Mädchen, das sie sich nur hatte vorstellen können. Und sie war Lilys ganzer Lebensinhalt gewesen. Bis vor ein paar Jahren hatte in der Arbeit passieren können, was wollte, für Lily hatte sich alles nur um Shana gedreht. Ihre Tochter hatte sie davon überzeugt, dass es auf der Welt Güte gab und echte Tugend. Sie hatte Lily beigebracht zu lächeln, zu lachen und Freudentränen zu weinen. Doch sie entglitt ihr immer mehr, sie wurde älter und langsam zur Frau. Sie brauchte Lily nicht mehr. Alles, was sie wollte, bekam sie von ihrem Vater. Früher war Lily Johns Baby gewesen, jetzt aber war ihm nur mehr Shana wichtig.
Die Probleme mit Shana waren nicht nur mit der ödipalen Phase der Pubertät zu erklären. John tat alles, damit Shana sich von ihrer Mutter abwandte, und Lily verstand nicht, warum. War es, weil er dagegen war, dass sie Richterin wurde? John hatte immer davon geträumt, dass sie sich als Anwältin selbständig machte, damit sie Berge von Geld verdiente und er seine Arbeit kündigen und sich um das Vermögen kümmern könnte. Richterin zu sein mochte Prestige haben, aber das Einkommen lag nur geringfügig über dem einer Staatsanwältin. John verstand sie nicht. Er nannte
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