Maenner weinen nicht
Druck innerhalb der Orchestergemeinschaft und die Erwartungshaltung des Publikums schlagen den Künstlern aufs Gemüt. Mindestens jeder vierte Berufsmusiker versucht, die psychische Last mit Angstlösern, Herztabletten, Alkohol oder wenigstens pflanzlichen Mitteln zu betäuben. Nur wenige kranke Künstler schaffen den Absprung und schlagen einen neuen Lebensweg ein. Nicht selten enden Musiker einsam und depressiv, wenn sie vorzeitig das Instrument zur Seite legen.
Doch das Leid kann auch – ähnlich wie bei den Rockstars – ungeahnte Kräfte mobilisieren. Der Komponist Robert Schumann komponierte unzählige Stücke: Klaviermusik, Sonaten, Lieder, Chormusik und sogar eine Oper. Eigentlich wollte er Pianist werden, doch diese Karriere blieb ihm verwehrt, weil er an einer wahrscheinlich selbstverursachten Muskelstörung der Hand litt. Mit 44 Jahren versuchte sich Schumann durch einen Sprung in den Rhein das Leben zu nehmen; die letzten beiden Jahre seines Lebens verbrachte der Manisch-Depressive in einer Heilanstalt. Schon in jungen Jahren bescheinigten die Ärzte ihm wiederkehrende seelische Krisen.
Und nicht nur Schumann galt als psychisch labil: Ludwig van Beethoven beispielsweise starb an den Folgen einer Leberzirrhose, einer knotigen, funktionsuntüchtigen Leber als Folge jahrelangen, exzessiven Trinkens. Wolfgang Amadeus Mozart war ein Workaholic, galt als Weiberheld und spielsüchtig. Und seine Komponistenkollegen Anton Bruckner, Georg Friedrich Händel und Gustav Mahler waren definitiv depressiv.
Jedes Wort gelebt
Nicht nur berühmte Musiker, auch begnadete Schriftsteller und Maler weisen überdurchschnittlich häufig ein zartes Gemüt auf. Das zeigt unter anderem eine Untersuchung aus dem Jahr 1994, für die der britische Psychiater Felix Post die Biografien von 291 kreativen Männern aus Natur- und Geisteswissenschaften sowie Politik und Kunst durchforstet hatte. Vor allem erfolgreiche Autoren und Maler fielen bei der Auswertung auf: Unter den bildenden Künstlern und Schriftstellern litten in der Studiengruppe 38 beziehungsweise 46 Prozent an schweren seelischen Störungen, darunter bedeutende Persönlichkeiten wie Paul Cézanne und Wassily Kandinsky, Fjodor Dostojewski, Thomas Mann und August Strindberg. Überdurchschnittlich häufig waren die erfolgreichen Männer depressiv.
Ähnlich steht es auch um viele zeitgenössische Künstler und Schriftsteller. 2008 beispielsweise nahm sich der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace im Alter von 46 Jahren das Leben. Das wortgewaltige Superhirn litt unter schwerer Depression und hatte bereits mehrere Selbstmordversuche hinter sich. Offenbar sind bestimmte krankhafte Persönlichkeitszüge sowie die Tendenz zu Alkoholismus und Depressionen untrennbar mit großer Kreativität verbunden, kommentierte Post seine Befunde.
Die Ergebnisse seiner ersten Promi-Studie inspirierten Post zu einer weiteren Analyse. 1996 stellte er eine Publikation vor, für die er die Biografien von 100 Literaten untersucht hatte. Dabei bestätigten sich die Ergebnisse aus der ersten Studie: Schriftsteller erkrankten häufiger an Alkoholismus und Depressionen als die Durchschnittsbevölkerung. Der britische Forscher entdeckte sogar Unterschiede zwischen den verschiedenen Schreibgattungen: Autoren, die Dramen und Romane verfassten, waren häufiger betroffen als Lyriker. Bei Letzteren, so Posts These, sei möglicherweise weniger Intensität in der gefühlsmäßigen Vorstellungskraft gefragt, sodass sie psychisch etwas stabiler waren als ihre Kollegen.
»Die Trauer kommt und geht ganz ohne Grund.
Und man ist angefüllt mit nichts als Leere.
Man ist nicht krank und auch nicht gesund.
Es ist, als ob die Seele unwohl wäre …«
Erich Kästner, »Traurigkeit, die jeder kennt«
Auch bei den Sprachgenies folgt die Wissenschaft der These von Borwin Bandelow: Nicht ihre kreative Arbeit und der verdiente Ruhm machten diese Männer verrückt. Nein, sie hatten Erfolg, weil sie bereits vor ihrer schriftstellerischen Karriere schizophren, depressiv oder besonders narzisstisch waren. Die Veranlagung dafür wiederum scheint vererbt zu werden. Beispielhaft ist die Familie Hemingway zu nennen: Fünf Hemingways nahmen sich das Leben, alle waren depressiv (siehe Kapitel 5 »Bis zum bitteren Ende«).
Traurige Idole der Nation
Im Leistungssport setzen sich nur die wirklich starken Athleten durch und schaffen es bis an die Spitze – diese Meinung hielt sich bis vor wenigen Jahren hartnäckig
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