Männerstation
Sie sich bitte in meine Lage …«
»Es ist mir leichter, mich in die Lage von Herrn Staffner zu versetzen.«
»Auch! Natürlich! Aber wollen wir das hier hinter dem Skelett besprechen?«
»Ich brauche nichts zu besprechen.« Beißelmann faßte wieder die Haltestange und hob das Gerippe hoch. Er ging an Dr. Pflüger vorbei, aber in der Tür drehte er sich noch einmal um. In seinen Augen lag wieder die kalte Entschlossenheit, die Pflüger gestern mit Schrecken erkannt hatte. »Lassen Sie Frau Staffner in Ruhe, dann vergesse ich alles«, sagte Beißelmann leise.
Dr. Pflügers Kopf schoß vor wie eine angreifende Schlange. »Ich lasse mir doch nicht von Ihnen Vorschriften machen!«
»Dann nicht. Dann muß es eben so sein.«
»Was muß so sein?«
»Das, was kommt …«
»Beißelmann – Sie werden doch nicht Frau Staffner unglücklich machen!«
»Und wer denkt an den Mann?«
»Die Ehe ist zerrüttet! Das geht Sie eigentlich gar nichts an, aber wenn wir schon von Mann zu Mann darüber sprechen … Also: wenn Herr Staffner entlassen wird, will seine Frau die Scheidung einreichen.«
»Davon weiß er aber jetzt noch nichts!« Beißelmann sah über das Schulterblatt hinweg. »Er freut sich täglich auf den Besuch seiner Frau. Und dann sitzen sie zusammen, halten sich an den Händen und tun wie Verliebte. Und sie nennt ihn ›Mein Müs'chen‹ und mein ›Männilein‹ …«
Dr. Pflüger fuhr sich mit dem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals, als würde ihm das Hemd zu eng. Dabei suchte er nach Worten und fand im gleichen Augenblick, daß es eine Schande sei, einem lumpigen Krankenpfleger Auskunft über Privatdinge zu geben.
»Sie wird sich scheiden lassen.«
»Und Sie wollen sie heiraten?«
Dr. Pflüger schwieg. Beißelmann nickte mehrmals.
»Aha!« sagte er. »Sehen sie – und das ist es!«
»Sie haben noch nie … Dummheiten gemacht, was?«
»Nein.«
»Sie waren immer ein Musterknabe!«
»Ja.«
»Sie haben noch nie etwas Unrechtes getan?«
»Nein …«
Beißelmann sah Dr. Pflüger aus starren Augen an. Als ich sie beide erwürgte, da war das auch nichts Unrechtes, dachte er. Ich habe meine Ehre gerettet und einen Verrat bestraft. Ich habe ein Unrecht ausgemerzt, aber keines begangen. Ob das gesetzlich ist oder nicht, das kümmert mich nicht; in meinen Augen war es Recht!
»Dann sind Sie ein Mustermensch!« sagte Dr. Pflüger sarkastisch.
»Ja!«
Dieses Ja war hart, wie geschossen. Dr. Pflüger zuckte zusammen, das Spöttische in seinen Gesichtszügen wurde weggewischt. Er suchte nach seiner Zigarettenschachtel, fand sie aber nicht.
»Sie liegt draußen auf der Bank«, sagte Beißelmann.
»Möglich.« Der Oberarzt zuckte hoch. »Wieso?« fragte er, als er den Zusammenhang begriff.
»Was wollen Sie von Schwester Inge?« fragte Beißelmann heiser.
»Ich glaube, Ihre Neugier geht etwas zu weit!« rief Dr. Pflüger erregt.
Beißelmann nickte mehrmals. Er beugte sich über die Schulter des Skeletts vor. Sein langer Schädel war jetzt neben dem Totenkopf mit der leuchtend roten linken Augenhöhle. Es war ein erschreckender Anblick … ein blanker Knochen und die Maske einer Mumie.
»Ich warne Sie«, sagte Beißelmann langsam. »Wenn ich es tue, muß ich es tun … das ist nun mal so …«
»Sie sind ja verrückt!« Dr. Pflüger wandte sich ab und rannte an Beißelmann und dem Skelett vorbei aus dem Raum. Er lief auf sein Zimmer und warf sich dort auf die Couch.
Mein Gott, dachte er. Damit ist das Problem ja nicht gelöst. Im Gegenteil, es fängt erst an.
Er sprang wieder auf und rannte unruhig hin und her.
Beißelmann hatte ihn in der Hand; seine Karriere, seinen Ruf als Arzt und Mensch, sein ganzes ferneres Leben. Das war eine erschreckende Einsicht, um so mehr, als Dr. Pflüger keinen Ausweg sah, der elegant und schadenfrei genug war, daß man ihn gehen konnte.
*
Der Röntgenapparat tickte kurz, dann war die erste Aufnahme beendet. Die Schwester holte die belichtete Platte unter ihrem Rücken weg und ließ das Aufnahmegerät etwas nach oben gleiten.
»Jetzt bitte auf den Bauch drehen«, sagte die Stimme hinter Evelyn Frerich. »Und die Arme anlegen …«
Sie zögerte einen Augenblick mit geschlossenen Augen. Es war ihr, als ziehe ein Ameisenstaat über ihren nackten Oberkörper und jede der vielen tausend Ameisen tanze mit ihren sechs Beinen auf ihrer Haut und kitzele mit den Fühlern ihre Brust.
Das war ein Gefühl unendlicher Wollust. Sie seufzte laut und warf sich auf den Bauch.
Weitere Kostenlose Bücher