Märchensommer (German Edition)
stammelte ich und machte dabei schmale Augen. „Ich meine … Dieses Lied. Woher hast du gewusst, dass es eine besondere Bedeutung für mich hat?“
Julian seufzte leise. „Wie hätte ich das nicht merken sollen, Jona? Du hast es gestern den ganzen Tag in den Weinbergen gesungen.“ Er streifte mir eine Haarsträhne hinters Ohr und streichelte mir sanft mit den Fingerspitzen über die Wange, als er seine Hand wieder zurückzog. Ein sinnlicher Schauer durchzuckte mich und ich nahm meine Gedanken von vorhin wieder auf.
Zwischen uns herrschte eine seltsame Stille. Mein Hals war so trocken, ich musste zweimal schlucken, bevor ich meine Stimme wiederfand. „Wie heißt das Lied?“, fragte ich heiser.
Julian lächelte in sich hinein, als wäre das ein Scherz, den nur er verstünde. Im nächsten Moment lag plötzlich seine Hand auf meiner in meinem Schoß. Ich blickte nach unten, meine Knie zitterten, doch wie immer, wenn Julian mich berührte, breitete sich schnell ein Gefühl der Wärme und absoluten Glückseligkeit in mir aus.
„Es heißt Hallelujah “, antwortete er.
Hallelujah! Mein Lied hatte einen Namen.
Und welche Ironie der Titel doch im Vergleich zu meinem traurigen Leben bot. Meine Hand wurde warm unter seiner und doch zitterten meine Finger ein wenig, genau wie meine Knie. Es störte mich ungemein, dass auch mein Herz schneller klopfte und ich viel schneller atmete als sonst.
Julian sollte nicht merken, wie nervös mich seine Berührung machte, also räusperte ich mich kräftig und fragte ihn dann: „Kannst du es noch mal spielen?“
Beinahe zärtlich rieb er mit seinem Daumen über meine Fingerknöchel, bevor er langsam seine Hand wegzog und nickte. Er blätterte zurück zur ersten Seite und las dann erneut seinen Weg durch das Wirrwarr von Noten, wobei er dem Klavier dieses wunderbare Lied entlockte.
Mein Blick schweifte hin und her zwischen seinem ernsten Gesicht und seinen Fingern auf den Tasten. Als er mich sachte mit seinem Ellbogen anstieß, wusste ich, dass es Zeit war umzublättern. Doch irgendwann legte ich einfach meinen Kopf an seine Schulter, machte die Augen zu und lauschte der Musik.
Ich war mir sicher, dass er nicht einmal pausierte, um auf die nächste Seite zu blättern. Wie konnte er dieses komplizierte Lied nur so schnell auswendig lernen? Aber eigentlich war mir das auch egal, solange er nur nicht aufhörte zu spielen.
Als die letzten Akkorde ausklangen und uns wie ein Schleier bedeckten, wollte ich mich nicht von Julian wegbewegen. Ich blieb einfach still sitzen, mit meinem Kopf an seiner Schulter und geschlossenen Augen. Julian saß so still wie ich, nur sein Kopf drehte sich leicht in meine Richtung; ich spürte seine Wange an meiner Stirn.
„Spiel es noch mal“, bat ich ihn leise.
Julian gab mir keine Antwort, doch nur einen Augenblick später spürte ich, wie seine Hände erneut zu tanzen begannen und meine liebliche Melodie erfüllte den Raum. Hätte er mir nur das kleinste Anzeichen mit einem Schubs oder einem Zucken gegeben, dass ich an seiner Schulter nicht willkommen war, hätte ich mich auf der Stelle verkrümelt. Doch er ließ mich Stunde um Stunde an ihm lehnen.
Und immer, wenn das Lied zu Ende ging, brauchte ich ihn nur ganz leicht anzustupsen, und er begann von vorn.
Noch einmal.
Und noch einmal.
Bis tief in die Nacht.
15. Der Kuss, der keiner war
ICH ÖFFNETE DIE Augen in meinem persönlichen Fleckchen Himmel und blickte glücklich an die Decke über meinem Bett. Die sanfte Melodie von Hallelujah spielte immer noch in meiner Erinnerung. Wie jeden Morgen begrüßten mich die Vögel mit ihrem Gezwitscher vor meinem Fenster und die hereinflutende Sonne. Ich zog mir die Bettdecke noch einmal hoch bis zum Kinn, vergrub meine Wange tiefer im Kissen und versank im Nachklang von letzter Nacht.
Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft Julian das Lied für mich gespielt oder wie viele andere Lieder er dem Klavier noch entlockt hatte. Irgendwann nach elf Uhr nachts gingen wir schließlich gemeinsam nach oben. Er wünschte mir eine gute Nacht und stupste dabei mein Kinn mit seinem Fingerknöchel.
Obwohl ich heute Morgen nicht mehr sagen konnte, was genau ich geträumt hatte, wusste ich doch mit ziemlicher Sicherheit, dass Julian darin vorgekommen war.
Beim Gedanken an ihn seufzte ich leicht. Ich rollte mich wieder auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. Das von der Fensterscheibe reflektierte Sonnenlicht tanzte an der Decke.
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