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Märchensommer (German Edition)

Märchensommer (German Edition)

Titel: Märchensommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Katmore
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hatte. Aber mein Herz klopfte wild vor Aufregung.
    Als sie mich auf der Treppe sah, blieb meine Mutter kurz im Flur stehen. Für eine Schrecksekunde tat ich das auch, und ich fühlte mich, als hätte man mich trotz allem erwischt. Ein lila Schal war um ihre Schultern gewickelt und ließ ihr müdes Gesicht noch blasser wirken. Ohne ein Wort zu sagen, huschte sie weiter in ihr Zimmer und machte leise die Tür zu.
    Ich war noch immer in meiner Schrecksekunde gefangen, die mittlerweile schon fast eine halbe Minute dauerte, und blickte auf den leeren Platz im Flur, wo meine Mutter gerade noch gestanden hatte. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, doch ihr Schmerz hinterließ auch eine wunde Stelle in mir.
    Weil ich das furchtbare Gefühl nicht abschütteln konnte, knirschte ich mit den Zähnen und machte mich wieder auf den Weg nach oben. Doch da hörte ich Musik aus dem Wohnzimmer kommen und blieb wie angewurzelt auf den Stufen stehen. Julian spielte auf dem Klavier.
    Fasziniert von der lieblichen Melodie, wunderte ich mich, ob das vielleicht die Noten sein konnten, die er heute von Pauls Piano-Shop geholt hatte. Noch einmal schlich ich nach unten und schielte vorsichtig um die Ecke. Die Tür stand nun weit offen und ich konnte Julian am Klavier sitzen sehen, mit dem Rücken zu mir.
    Gut, denn im Moment hätte ich ihm nicht in die Augen sehen wollen. Nicht nach allem, was ich vorhin gehört hatte.
    Die harmonischen Akkorde hingen leicht im Raum und erfüllten mich mit seltsamer Ruhe. Obwohl … es ging hier um Julian, da sollte mir doch eigentlich nichts mehr wirklich seltsam vorkommen. Oder zumindest nicht mehr als sonst.
    Ich lehnte mich mit der Schulter gegen den Türrahmen und lauschte seinem Spiel. Bald neigte ich auch meinen Kopf gegen das Holz und blickte verträumt zum weiten Fenster hinaus, vor dem gerade die feurige Sonne im Westen versank. Dabei merkte ich gar nicht, wann das erste Stück zu Ende war und Julian ein neues begann. Doch plötzlich zuckte ich zusammen. Er spielte mein Lied! Die Melodie, die ich so oft summte und von der ich nicht einmal wusste, ob ich sie jemals irgendwo gehört oder nur frei erfunden hatte.
    Nur spielte er das Lied nicht eintönig, so wie ich es pfeifen oder summen würde. Seine Hände schwebten über die Elfenbeintasten und jubilierten dabei geradezu über die kleine Melodie.
    Es dauerte nicht lange, da blickte Julian über seine Schulter und schenkte mir ein Lächeln, das größtenteils von seinen Augen ausging. Dann zwinkerte er mir zu.
    Erwischt.
    Mein Herz trommelte gegen meine Rippen. Wenn es noch ein klein wenig lauter schlagen würde, könnte es ihm als Metronom dienen.
    Julian lud mich mit einem Kopfnicken ein, mich zu ihm auf die kleine schwarze Lederbank zu setzen. Zögerlich ging ich auf ihn zu. Hoffentlich hatte ich seine Geste nicht missverstanden. Doch als ich bei ihm ankam, rutschte er an ein Ende der Bank und vertrieb damit all meine Zweifel. Langsam sank ich neben ihn.
    Er lehnte sich zu mir und sein vertrauter Duft hüllte mich ein. Seinen Kopf nur leicht in meine Richtung gedreht, berührten sich unsere Wangen flüchtig, als er flüsterte: „Kannst du die Seite für mich umblättern?“
    Auf dem Notenständer war ein Heft mit Zeilen und einer Unzahl von schwarzen Punkten mit und ohne Striche, Rautezeichen und kleine Buchstaben. Ich verstand nicht einmal im Ansatz, was all das Zeug bedeutete. Aber eins war klar. Er war heute nur wegen mir mit in die Stadt gekommen.
    Mit kalten, zittrigen Fingern blätterte ich für ihn um, dann saß ich so still, dass man mich leicht für einen Teil der Einrichtung hätte halten können. Seine Hände hielten niemals still. Manchmal streichelte er nur die Tasten, im nächsten Moment drückte er sie energisch nieder. Es wirkte beinahe so, als würde er die Tasten auf seine ganz eigene Art und Weise liebkosen. Für einen kurzen Augenblick stellte ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn er mich auf diese Weise berühren würde.
    Mein Blick schweifte zu seinem Gesicht und ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich wollte diesen Gedanken um Himmels willen nicht weiterspinnen.
    Zwei weitere Male stupste er mich sanft mit seinem Ellbogen an und flüsterte: „Nächste Seite, bitte.“ Dabei konzentrierte er sich die ganze Zeit auf die Noten vor sich.
    Plötzlich war das Stück zu Ende. Die letzten Akkorde verstummten und es war totenstill. Händeringend saß ich da und wartete, bis er mich ansah. „Woher wusstest du …“,

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