Märchensommer (German Edition)
an der Fensterscheibe herunterliefen.
„Ich bin beeindruckt“, sagte Julian schließlich leise. „Es muss dich ja eine Höllenüberwindung gekostet haben, hier herzukommen. Worüber willst du also reden?“ Seine Augen waren warm und freundlich, doch in seiner Stimme lag ein Hauch von Ungeduld.
Ich zuckte mit den Schultern. Jetzt wo er mich hereingebeten hatte und wir uns so nah gegenübersaßen, wusste ich plötzlich nicht mehr, wie ich anfangen sollte. Ich ließ meinen Blick an ihm vorbei über den Kleiderschrank mit eingekerbtem Muster bis hin zur Tür auf der anderen Seite gleiten. „Du hast ein hübsches Zimmer.“
„Es sieht deinem ziemlich ähnlich. Aber du bist wohl kaum gekommen, um mir ein Kompliment für mein Zimmer zu machen, oder?“
Ich studierte seine Gesichtszüge, die im Moment leider so gar nichts von ihm preisgaben. Also schön, es war Zeit die Karten auf den Tisch zu legen. „Was ist vergangenes Wochenende zwischen uns passiert, dass du mich plötzlich nicht mehr in deiner Nähe haben willst?“ Ich zog meine Augenbrauen tiefer und sah ihn mit schmalen Augen an. „Ich meine, es ist ja nicht wirklich etwas passiert.“
Julian presste die Lippen aufeinander und schnaubte abfällig durch die Nase. „Nein. Es ist nichts passiert.“ Für einen kurzen Moment senkte sich sein Blick und ein Muskel zuckte in seinem Kiefer.
„Warum gehst du mir dann aus dem Weg?“
Er verzog das Gesicht zu einer angestrengten Grimasse. „Es ist kompliziert.“
„Kompliziert?“, wiederholte ich in einem zynischen Ton. Warte. Lass mich schnell eine Schüssel voll Buchstabensuppe essen und ein besseres Argument auskotzen als das.
Julian stieß sich von der Tischkante weg, schob die Hände in die Taschen und begann im Zimmer auf und ab zu laufen.
Ich ließ meine Beine los, setzte mich im Schneidersitz hin und stützte mich mit den Ellbogen auf die Schenkel. Meine Hände verschränkte ich dabei. „Julian … Ich wurde in ein Kinderheim gesteckt, da war ich erst fünf. Meine Mutter wollte mich nicht und offenbar auch sonst keiner. Im Winter hab ich mit drei Paar Socken übereinander geschlafen, nur damit meine Zähne nachts nicht zu laut klapperten.“ Mit jedem weiteren Wort klang meine Stimme energischer. „Letzte Woche hab ich’s versaut und wurde beim Stehlen eines verfluchten Sweaters erwischt. Und der Kinderhasser von Richter fand es wohl witzig mich daraufhin aus dem Land zu verbannen. Ich wurde wie ein Sklave hierher verschifft, wo ich mit Leuten unter einem Dach leben muss, die ich kaum kenne, und einer Mutter, auf die ich gerne verzichten würde. Und du willst mir allen Ernstes was von kompliziert erzählen?“
Der Drecksack wandte sich nicht einmal zu mir.
„Verdammt, Julian, sieh mich wenigstens an!“
Erst bewegten sich nur seine Augen in meine Richtung, dann neigte er schließlich seinen Kopf und blickte mir direkt ins Gesicht. Seine Lippen blieben allerdings versiegelt. Der machte mich fertig.
„Können wir nicht einfach vergessen, was passiert ist?“ Ich seufzte tief und rieb mir die Hände übers Gesicht, wobei ich meine Lippen kurz zu einem Fischmaul zusammenpresste. „Ich könnte hier echt einen Freund gebrauchen.“
Meine Worte schienen endlich bei ihm anzukommen, denn sein Körper entspannte sich ein wenig, genauso wie die Atmosphäre zwischen uns. Langsam kam er ums Bett herum und ließ sich neben mich auf die Matratze fallen. Die Arme über der Brust verschränkt und die Knöchel gekreuzt, lehnte er sich gegen das hölzerne Brett des Kopfendes. Er blickte starr auf die Wand gegenüber. „Ich hab’s dir wohl ziemlich schwer gemacht, dich hier wohlzufühlen, hm?“ Seine Füße wippten am Bettrand hin und her.
Über meine Schulter blickte ich ihm ins Gesicht, bis auch seine Augen zu mir wanderten. „Du warst großartig … bis Sonntagmorgen.“
„Ist es zu spät, um mich zu entschuldigen?“
Ein verschlagenes Grinsen huschte schneller auf meine Lippen, als ich es hätte stoppen können. „Eine Entschuldigung von dir wäre ja mal eine interessante Abwechslung. Ich warte.“
„Oh, Gott behüte. Ich werd’s nicht noch mal sagen!“ Sein spitzbübisches Lachen erfüllte den Raum und auch mich mit Freude. Dann fasste er mir plötzlich an den Nacken und zog mich zu sich runter. Überrascht, jedoch ohne zu zögern, gab ich nach und legte meinen Kopf auf seine Brust. Sein Arm lag locker um meine Schultern.
Oh. Mein. Gott.
Okay, offenbar war er damit einverstanden, dass
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