Magdalenas Garten
Napoleon sich zurückgezogen hatte, lag schützend über der Stadt. Ihr Vater war hier, ganz in ihrer Nähe, sie konnte doch nicht einfach in diesen Bus steigen, sie musste bleiben, das Notizbuch lesen und ihn hier finden, wo er seit dreiÃig Jahren auf sie wartete. Es gab diesen Platz! Magdalena durchforstete ihr Gehirn immer hektischer, es musste doch eine Lösung geben. Mit mehr Zeit würde ihr gelingen, was sie in den wenigen Tagen nicht hatte schaffen können: Irgendwer würde etwas wissen, und ihre Wege würden sich schon bald mit denen ihres Vaters kreuzen, mit Olmo Spinetti oder einem seiner Freunde, einem dunkelhaarigen Mann mit strahlend weiÃen Wolfszähnen.
Die Fähre tutete dreimal schmerzhaft laut in Magdalenas Ohren, auch die versammelte Rentnergruppe zog simultan den Kopf ein. Sie schaute sich um, hier auf der betonierten Mole konnte sie den Inhalt der Katzenzungenschachtel auf keinen Fall sichten. Sie lieà die Schachtel und den Brief in den Korb gleiten und marschierte mit groÃen Schritten los.
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Magdalena nutzte das Geschiebe der Passagiere auf den vielen engen Treppen, die aus dem Parkdeck zwischen braun verspiegelten Wänden hinaufführten, und bog in den untersten Salon auf Deck I ab. Hier war es leer, niemand würde sie finden. Alle drängten zunächst nach oben auf Deck, um noch einen Blick auf die Insel zu erhaschen. Magdalena lieà sich in der hintersten Sesselnische auf einen Platz fallen und schaute unweigerlich auf den flimmernden Bildschirm, der von der Decke hing. Zwischen den Streifen des Monitors konnte sie den Umriss von Elba erkennen, die Insel sah für sie immer wie ein Fisch aus, auf dessen groÃer ausgefranster Schwanzflosse Capoliveri und Porto
Azzurro lagen. Zwei lachende Sonnen und ein paar Wolken verteilten sich darüber, 20 bis 25 Grad in den nächsten Tagen. Eilig streifte sie das Gummiband von der Katzenzungenschachtel, klappte sie auf und breitete Postkarten, Zettelchen und Briefe auf den Sesseln rechts und links von ihr aus. Drei Schwarz-WeiÃ-Fotos fielen aus einem Umschlag, ein dickes Baby an Heidis Brust, ein runder, haarloser Kopf. Das bin ich, dachte Magdalena, ganz anders als auf den Fotos, die ich sonst von mir kenne. aber das bin eindeutig ich. Heidi mit kürzeren Haaren, wie locker und sicher sie mich hält und wie stolz und zufrieden ihr Blick ist! Woher kommt dieser Wandel, warum schickt mir Opa Rudi jetzt doch noch diese Sachen von ihr? Magdalena schluckte die aufkommende Rührung hinunter. Wahrscheinlich war die kleine Schachtel nach Heidis Tod von einer Mitbewohnerin aus der Wohngemeinschaft zusammengepackt und dann von den GroÃeltern unter Verschluss gehalten worden. Aber warum bloÃ?
Magdalena nahm sich wieder das graue Notizbuch vor, sie durfte nichts übersehen. Die Innenseite des Umschlags hatte Heidi mit der akribischen Auflistung ihrer Ausgaben gefüllt. Zugfahrt Verona-Genova/12 500 Lire, Cappuccino/750 Lire, Campingplatz del Mulino/4000 Lire pro Nacht. Genova-Livorno/6000 Lire, Limit pro Tag: 8 Mark/8000 Lire
So viel hatte sie sich also zugestanden, acht Mark, so wie heute vielleicht acht Euro. Das ist mager, dachte Magdalena. Und ohne telefonino , bancomat , Internet, kaum vorstellbar, wie man damals reiste.
Diese blöden Italiener! Habe eine Stunde an der Bushaltestelle gewartet, aber der Bus kam nicht, dann nahmen die beiden mich mit, jetzt haben sie sich auch noch verfahren, wären sonst schon längst da. AuÃerdem nervt der Regen und tötet alles in mir ab. Trampen ist anstrengend. Sie war getrampt, das hatten die GroÃeltern ihr garantiert nicht
erlaubt. Aber wahrscheinlich hatte Heidi nicht um Erlaubnis gefragt, sie war ja schon zu Hause ausgezogen.
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1. Juli - Wenn die nächste Telefonzelle auch wieder kaputt ist, gebe ich es auf, zu Hause anzurufen. Bin mal wieder im Zustand schmerzlicher Trauer. Obwohl ich wegwollte und mir alles in O. sofort wieder sehr einengend vorkam, tut es mir jetzt nach diesem Abend mit Nick fast leid. Aber ich musste alleine fahren. Glück haben, wenn man darauf angewiesen ist, kann schwierig werden. Ich muss besser Italienisch lernen!
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Magdalena las die nächste Seite durch und grinste, endlich wusste sie, wo Heidi sich am 3. Juli vor einunddreiÃig Jahren aufgehalten hatte:
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3. Juli - Campingplatz del Mulino, Finale Ligure.
Wenn man zu stark nach etwas sucht, wird man blind und findet es
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