Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
betrachtete Maggie, als suche sie nach etwas Verborgenem in ihr. Aus der Nähe wirkte sie älter, als Maggie geschätzt hatte. Ohne Brille sah man die Fältchen um die Augen, und sie hatte Linien um den Mund. Sie lächelte schwach und verzog nur die Mundwinkel. Offenbar war diese Frau es gewöhnt, Ausdruck und Emotionen zu beherrschen. Nicht mal in ihren Augen spiegelten sich Gefühle, obwohl sie nicht kalt waren, nur leer.
Eve wandte plötzlich den Blick ab, als hätte sie bereits zu viel preisgegeben, und setzte die dunkle Brille wieder auf.
„Du siehst ihr sehr ähnlich“, sagte sie in demselben, gleichmütigen Ton.
„Wie bitte?“
„Kathleen. Sie ist deine Mutter, oder?“
„Sie kennen meine Mutter?“
„Sie kam zu uns, kurz bevor ich geflüchtet bin.“
Bei dem Wort geflüchtet zuckte Maggie zusammen, obwohl Eve es so beiläufig sagte, als spräche sie vom Heimgehen nach der Arbeit.
„Glauben Sie ja nicht“, fuhr sie fort, öffnete die Manschetten und begann die Ärmel aufzurollen, als sei ihr plötzlich zu warm, „dass Everett harmlos ist. Er rettet dich, er baut dich auf, er sagt dir, dass er dich liebt und dir vertraut, dass du etwas Besonderes bist und Gott ihm mit dir einen Gefallen tut. Und dann wendete er sich gegen dich und reißt dich in Stücke. Er entdeckt deine Schwächen und Ängste und nutzt sie aus, dich zu demütigen und zerstört auch dein letztes bisschen Selbstachtung.“
Die Ärmel hochgerollt, hielt sie Maggie zur Betrachtung die Handgelenke hin.
„Er nennt das: zum Brunnen schicken“, erklärte sie in dieser ärgerlich ruhigen, gleichmäßigen Stimmlage. Rote Schwellungen umgaben beide Gelenke, wo die Haut aufgesprungen war und geblutet hatte, weil Seile oder Handschellen hineingeschnitten hatten. Die Wunden wirkten relativ frisch. Eve sah sich rasch um, zog die Ärmel herunter, wickelte ihr Sandwich wieder aus und aß weiter, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.
Maggie wartete schweigend, diesmal aus Respekt. Sie folgte Eves Beispiel, aß knabbernd Chips weiter und trank aus ihrer Wasserflasche.
„Es ist ein richtiger Brunnen“, erzählte Eve. „Obwohl ich bezweifle, dass er ihn für etwas anderes nutzt als zur Bestrafung. Er wusste, dass ich vor Dunkelheit und engen Räumen Angst habe, also war es die ideale Strafe.“
Ihr Blick war auf die Teenager am Hügel gerichtet, doch Maggie ahnte, dass vor ihrem inneren Augen andere Bilder abliefen. Die Stimme blieb ruhig, klang aber, als gehöre sie nicht mehr ihr. „Ich wurde an den Händen gefesselt und in den Brunnen hinabgelassen. Als ich trat, mich festkrallte und hinauszuklettern versuchte, ließ er eimerweise Spinnen über mir ausschütten. Jedenfalls glaube ich, dass es Spinnen waren. Es war so dunkel, ich konnte nichts sehen. Aber ich konnte sie fühlen, am ganzen Körper. Haare, Gesicht, Haut, alles kribbelte. Ich konnte nicht mal mehr schreien, weil ich Angst hatte, sie kriechen mir in den Mund. Ich schloss die Augen und versuchte still zu halten, damit sie mich nicht bissen. Stundenlang habe ich mich in mich selbst zurückgezogen. Ich erinnere mich, dass ich im Stillen immer wieder ein Gedicht von Emily Dickinson aufgesagt habe. Das hat mich wahrscheinlich davor bewahrt, den Verstand zu verlieren. ,Ich bin Niemand! Und du’?“
„Noch ein - Niemand - dazu?“ antwortete Maggie mit der nächsten Gedichtzeile.
„Dann sind wir ein Paar?“ fuhr Eve fort. „Pst! Sonst ruft man uns - öffentlich aus!“
„Die Fantasie kann einem wirkungsvoll helfen“, bestätigte Maggie und dachte daran, wie oft sie sich in der Kindheit in Fantasien geflüchtet und weit fortgegangen war.
„Everett hat mir alles genommen, bis auf meinen Verstand.“ Eve sah sie an und betonte entschieden: „Lassen Sie sich von niemandem einreden, Everett sei harmlos. Er redet den Leuten ein, dass er nur für sie sorgen will. Dabei lässt er sich ihre Häuser, ihren Besitz, ihre Sozialversicherung, die Pension und das Kindergeld überschreiben und belohnt sie mit Angst. Angst vor der realen Welt. Angst, gejagt und zur Strecke gebracht zu werden, wenn sie ihn hintergehen. Angst vorm FBI. Die Angst ist so groß, dass sie eher seinem Selbstmorddrill folgen, als sich lebend fangen zu lassen.“
„Selbstmorddrill?“ Trotz Eves Geschichte fand Maggie, dass das nicht nach dem Mann klang, der ihre Mutter vom Trinken abgebracht hatte. Alle Veränderungen, die sie an ihrer Mutter festgestellt hatte, waren sehr positiv. „Meine Mutter
Weitere Kostenlose Bücher