Magie der Schatten 1 - Barshim und Cashi
nicht die Muskeln, die sich an ihren Oberarmen bildeten, die durch das Holz, das sie für das Feuer hackte, entstanden waren. Nicht die drahtigen langen Beine, trainiert vom Wasserholen vom See, wenn sie den schweren Eimer schleppte. Und Tamin erkannte auch nicht das Lodern in ihren Augen, das nachts durch den Türspalt in die Stube fiel, um ihm am Tisch bei der Arbeit zu beobachten.
Das Kind begann zu sterben, und das Mädchen vergaß, wie es war, lachend durch die Wiesen zu laufen. Es war am Ende der Märchen angekommen. Auf dem weiteren Weg stand eine Frau, die mehr und mehr Worte wie Mitgefühl und Wärme verlernte und in ihrem Abendgebet von Verachtung und Rache sprach. Nur ein Gedanke blieb in ihr zurück: Barshim würde stolz auf sie sein.
*
Einige Wochen später, der erste Schnee lag bereits auf den Wegen, ritt Tamin nach Desmantera. Was er dort wohl wollte, überlegte Cashimaé, während sie beobachtete, wie er in der Ferne verschwand. Immer wenn der Magier von dort zurückkehrte, trug er einen süßlichen Duft an sich. Eine Mischung aus Schweiß, Wein und Rosen. Für gewöhnlich blieb er einige Stunden fort. Sie wischte sich die Hände am Rock ab und kehrte ins Haus zurück. Kurz lauschte sie der Stille, ehe sich die junge Frau umdrehte und erst vor einer kleinen Holztür zur linken Seite stehen blieb. Ganz tief holte sie Luft, bevor ihre Hand nach dem Holzriegel griff und ihn zur Seite schob. Damit schwang die Tür auf und Cashimaé betrat ein kleines niedriges Zimmer, dessen Wände mit Büchern zugestopft waren. Auf dem Tisch standen leere Becher und Teller. Der Boden war mit Pergamenten übersät. Ein muffiger abgestandener Gestank schlug ihr entgegen.
Tamins Arbeitszimmer. Cashimaé durfte nicht hier sein. Niemals. Weder zum Saubermachen noch um ihm etwas zu essen zu bringen. Ganz behutsam bewegte sie sich vorwärts. Darauf bedacht nichts zu berühren. Auf den Gegenstränden, die der Magier lange nicht mehr berührt hatte, türmte sich der Staub. Cashimaé kam eine simple Idee, Tamin zu beseitigen. Das nächste Mal, wenn er hier sitzen würde, könnte sie eines der Regale umstoßen und die Tür fest verrammeln. Sicherlich würde der verhasste Kerl an seinem eigenen Dreck ersticken.
Cashimaé entdeckte eine Karte mitten auf dem großen Holztisch. Sie zeigte Natriell und Liyiell sowie die einzelnen Vorinseln. Doch das war es nicht, was die junge Frau interessierte. Tamin bekam regelmäßig Briefe aus Comoérta. Natürlich sagte er ihr nicht, was darin stand. Sie konnte sich allerdings denken, dass es Neuigkeiten waren und hoffte auch, etwas über Barshim zu erfahren.
Unter einem Becher entdeckte sie ein Schreiben, das aussah, als könne es die Handschrift ihres Ziehvaters sein. Sie griff danach und stieß dabei an ein paar Bücher, die gefährlich nahe am Rand der Platte lagen und sich jetzt mit lautem Gepolter auf dem Fußboden verteilten. Das Mädchen zuckte zusammen. Sie ließ sich in die Hocke fallen, sammelte rasch die Bände wieder ein, drapierte sie wieder auf dem alten Platz und hoffte, dass Tamin es nicht bemerken würde. Ihr Fuß berührte etwas. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass es sich um ein vergessenes Exemplar handelte. »Die Kunst der Hexerei«, las sie laut und hockte sich auf den Boden. Ihre Hand strich über den Einband. Wie sie aus den Lehrbüchern noch wusste, waren die Hexer und Hexen einst Kopfblinde gewesen. Dumme Menschen, die irgendwie den Weg in die Alte Welt fanden und sich auf der Suche nach der Magie die Hexerei aneigneten, weil sie für Magie untauglich waren. Was genau war Hexerei überhaupt?
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Ruckartig versteckte sie das Buch unter der Schürze und hastete wieder hinaus. Im Flur lauschte sie angespannt. Nichts. Vielleicht eine Maus? Sie ärgerte sich, weil sie sich durch ein banales Geräusch hatte täuschen lassen. Das Mädchen fürchtete, von Tamin erwischt zu werden. Die Erinnerung an die Ohrfeige saß tief. Bis dahin war sie niemals hart angefasst worden. Cashimaé eilte die knarrenden Stufen zum Speicher hinauf, wo hinten in einer zugigen Nische ein großer Sack mit Stroh gefüllt lag. Ihr kleines, privates Reich.
Als Tamin sie vor drei Monaten hier oben allein zurück gelassen hatte, war sie beim Anblick des schäbigen Ortes in Tränen ausgebrochen. Altes Gerümpel und Unrat von Tieren bedeckten den nackten Boden. Durch die ungeschützten Dachziegel zog der Wind und nur durch ein kleines rundes Fenster an der Nordseite
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