Magische Insel
dann fallen die langen schwarzen Flechten zu Boden.
XLVII
W enn die Blumen in den Kästen an der Straße blühen und ein frischer Wind aus Norden bläst, ist ein Spaziergang auf der Hauptstraße sehr angenehm, obgleich ich das Gefühl hatte, Bostric werde jeden Moment gegen mich taumeln. Seine Füße folgten nicht immer dem Körper – oder dem Verlauf der Straße.
Destrin arbeitete an einer einfachen Kiste für Murran, den Fuhrmann, der Gewürze und Silber auf der Nord-Süd-Straße von Fenard über Kyphros bis nach Horgland am Südlichen Meer beförderte. Wahrscheinlich würde er immer noch hustend daran arbeiten, wenn wir zurückkehrten.
In ganz Fenard gab es kein Straßenschild, aber jede Straße trug einen Namen: Hauptstraße, Straße der Goldschmiede, Nordstraße. Ich hatte die Namen durch Zuhören gelernt. Ich bezweifle aber, dass jemand, der nicht in Fenard geboren war, sämtliche Straßennamen kennt.
Die Namen änderten sich. Ich hörte, wie Bostric und Deirdre darüber sprachen, dass die Gasse der Gemüsehändler früher die Gasse der alten Herbergen gewesen war. Nur die Hauptstraße war und blieb die Hauptstraße, der einzige gerade und in bestem Zustand erhaltene Verkehrsweg in Fenard. Das hing vielleicht mit der Tatsache zusammen, dass sie vom Palast des Präfekten über den Marktplatz geradewegs zum Südtor führte.
Da der Tag angenehm war und ich keine Lust hatte, Kleinkram am Schreibtisch zu erledigen – nicht wenn es Destrin gerade einigermaßen gut ging, wenigstens zeitweise, und auch weil Deirdre niesend und schnäuzend an einem Heuschnupfen litt –, beschloss ich zum Marktplatz zu gehen, um zu sehen, ob die Stofflieferanten aus Horgland schon eingetroffen waren.
Bostric war natürlich froh, aus der Werkstatt herauszukommen, weil er dadurch Destrins Klagen und meinen Anforderungen entging.
»Machen wir wirklich einen Spaziergang, verehrter Geselle?«
»Bostric. Es reicht – oder willst du hier bleiben und das Feuer hüten?«
»Das Feuer zu hüten wäre natürlich auch eine große Ehre …«
»Bostric …«
»Ich gehe doch lieber spazieren.«
Manchmal konnte ich verstehen, warum Brettel Bostric so schnell hatte finden können. Sein Humor war zwar nicht sehr feinsinnig, doch ich hatte das Gefühl, dass mehr hinter seiner offenen und doch so respektvollen Respektlosigkeit steckte.
Ich stieß Bostric an und deutete auf den Postreiter, der zum Palast trottete.
»Ich wüsste gern, welche Neuigkeiten er bringt.«
»Glücklich sieht er nicht aus. Vielleicht der Autarch …« Er brach ab, als sich ein Soldat in der schwarzen Lederuniform des Präfekten näherte.
Der Soldat war kleiner und dicker als wir. Seine Augen hafteten auf der Straße. Er marschierte geradewegs auf uns zu, als gäbe es uns gar nicht. Wir wichen aus.
Ich spürte die Leere, keinerlei Aura, nur ein schwaches weißes Körnchen tief im Innern.
»Wer …?« Bostric blickte mich an. »Wer war das?«
Ich glaubte es zu wissen, schüttelte aber den Kopf. »Er muss irgendwohin gehen und tut das, ohne abzubiegen.«
Niemand sonst auf der Straße schien die Starre des Soldaten zu bemerken, nicht der Mann in blauer Seide und Leder mit dem langen Schwert, nicht die Bettlerin mit dem Sack oder der rothaarige Junge, dem ein Zahn fehlte. Alle machten ihm nur eilig Platz.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnete sich zwischen zwei grauen Steinhäusern mit roten Blumen eine schmale Gasse. Der Mann in blauer Seide verschwand darin, nachdem er sich beinahe furchtsam umgeschaut hatte.
»Was ist das für eine Straße?« fragte ich Bostric.
»Welche?«
»Die da drüben, zwischen den Blumen. Du kennst doch sämtliche Straßen und Gassen.«
»Das ist keine anständige Straße.« Er wurde rot.
»Keine anständige Straße?« neckte ich.
»Nein, keine anständige Straße.« Verlegen blickte er zu Boden.
»Was meinst du damit?« Ich blickte auf die roten Blumen und die schmale Gasse, die sich im Schatten verlor.
»Schon gut. Ich zeige sie Euch. Seht selbst.« Plötzlich ging er los und rannte beinahe über die Hauptstraße.
Wir waren an den Blumen vorbei, ehe ich Gelegenheit hatte, mich umzuschauen oder auf die mannigfaltigen Düfte zu reagieren: Rosen, Lilien, Nachtfeuer und viele andere, die ich nicht bestimmen konnte. Meine Sinne rebellierten, mir wurde fast übel.
Die Gasse war weniger als eine halbe Rute breit und kurz. Kaum ein Dutzend Häuser zu beiden Seiten, dann endete sie vor einer Mauer, die sie vom
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