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Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Maigret und der geheimnisvolle Kapitän

Titel: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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auch bei Delcourt haperte es manchmal mit der Ehrlichkeit. Und überhaupt bei allen im Hafen, wer es auch sein mochte.
    Grand-Louis’ Verhalten zum Beispiel war glattweg verdächtig. Er blieb nicht bis Caen auf dem Schoner. Er schlief an Bord eines verlassenen Schiffsbaggers. Maigret war sicher, daß er nicht allein dort war.
    Und kurze Zeit später hatte der Kommissar erfahren, daß die ›Saint-Michel‹ vor der Einfahrt in den Hafen ihr Beiboot verloren hatte. Am Ende der Mole hatte er einen Gegenstand aufgehoben, den man dort am allerwenigsten erwarten würde: einen goldenen Füllfederhalter.
    Die Mole war aus Holzpfählen gebaut. Ganz am Ende, neben der grünen Lampe, befand sich eine Eisenleiter, über die man ins Wasser steigen konnte. Und dort in der Nähe hatte man das Beiboot gefunden.
    Mit anderen Worten: die ›Saint-Michel‹ hatte bei ihrer Ankunft einen Passagier an Bord gehabt, der in Ouistreham nicht gesehen werden wollte. Der Passagier hatte mit dem Beiboot angelegt, war ausgestiegen und hatte es dann treiben lassen. Oben auf der Eisenleiter, als er sich hatte bücken müssen, um sich auf die Mole zu schwingen, war ihm der Federhalter aus der Tasche gefallen.
    Und der Mann hatte sich zu dem Schiffsbagger begeben, wohin Louis ihm später nachkam.
    Es war eine fast mathematische Rekonstruktion. Es bestand nur diese eine Möglichkeit, die Ereignisse zu interpretieren.
    Resultat: Ein Unbekannter versteckte sich in Ouistreham. Er war nicht ohne Grund gekommen. Er hatte also etwas zu erledigen. Und er stammte aus einem Milieu, in dem man goldene Füllfederhalter benutzte.
    Kein Seemann! Kein Landstreicher! Der Luxusfüller ließ auf ebenfalls teure Kleidung schließen. Er war gewiß ein »Herr«, wie man auf dem Lande sagt.
    Und ein »Herr« bleibt ein Ouistreham im Winter nicht unbemerkt. Tagsüber würde er den Bagger nicht verlassen können. Aber würde er nicht des Nachts dem Vorhaben nachgehen, um dessentwillen er gekommen war?
    Mißmutig hatte Maigret sich damit abgefunden, Wache zu halten, was eigentlich Sache eines jungen Inspektors gewesen wäre. Er hatte stundenlang im Nieselregen gestanden und den überdimensionalen Schatten des Schiffsbaggers nicht aus den Augen gelassen.
    Nichts war passiert. Niemand war von Bord gegangen. Es hatte zu dämmern begonnen. Und jetzt ärgerte sich Maigret, weil er kein heißes Bad nehmen konnte. Er schaute auf sein Bett und überlegte, ob er ein paar Stunden schlafen sollte.
    Der Wirt kam mit dem Kaffee.
    »Legen Sie sich nicht hin?«
    »Ach, ich weiß nicht. Würden Sie mir ein Telegramm zur Post bringen?«
    Eine Anordnung für Inspektor Lucas, mit dem er gewöhnlich zusammenarbeitete, ihm nachzukommen, denn Maigret hatte keine Lust, in der folgenden Nacht wieder Wache zu schieben.
    Durch das offene Fenster sah man über den Hafen, das Haus von Kapitän Joris, die Sandbänke in der Bucht, die die Ebbe entblößte.
    Während Maigret sein Telegramm aufsetzte, schaute der Wirt hinaus. Und ohne seinen Worten eine besondere Bedeutung beizumessen, sagte er:
    »Sieh an! Das Dienstmädchen des Kapitäns geht spazieren.«
    Der Kommissar hob den Kopf, sah Julie, die das Gartentor schloß und dann sehr eilig in Richtung Strand ging.
    »Was gibt es dort?«
    »Was meinen Sie?«
    »Wohin kann sie gehen? Sind dort Häuser?«
    »Gar nichts! Nur Strand, den man nie aufsucht, weil dort große Brecher hereindonnern und es viele Schlammlöcher gibt.«
    »Es gibt keinen Weg, keine Straße?«
    »Nein! Man kommt an die Mündung der Orne, und den ganzen Fluß entlang ist nur Morast. Ach ja! Im Sumpf dort sind ein paar Jagdhütten für die Entenjagd.«
    Und schon machte sich Maigret mit gerunzelter Stirn auf den Weg. Mit großen Schritten überquerte er die Brücke, und als er den Strand erreichte, hatte Julie einen Vorsprung von nur zweihundert Metern.
    Der Strand war leer. Die einzigen lebendigen Wesen in diesem Dunst waren die Möwen, die kreischend umherflogen. Rechts waren Dünen, hinter denen Maigret sich verborgen hielt, um nicht gesehen zu werden.
    Es war kühl. Das Meer war ruhig. Weißschäumende Wellen schlugen wie im Atemrhythmus ans Ufer, wobei ein mahlendes Geräusch von Muschelschalen entstand.
    Julie machte keinen Spaziergang. Sie lief schnell und preßte ihren kurzen schwarzen Mantel fest an sich. Sie hatte seit Joris’ Tod noch keine Zeit gehabt, sich Trauerkleidung zu besorgen. Also trug sie das, was sie an schwarzer oder dunklerer Garderobe besaß, wie diesen

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