Maigret und die Affäre Saint Fiacre
Métayer saß in seiner Ecke und schrieb, gelegentlich den Kopf hebend, um den Gesprächen zu fo l gen.
Maigret näherte sich ihm, konnte das Gekritzel zwar nicht lesen, sah aber, daß die Textabsätze säuberlich u n terteilt waren, mit wenigen Korrekturen, und jeder mit einer vorangestellten Zahl versehen:
1 .
2 .
3 .
Der Sekretär bereitete seine Verteidigung vor, während er auf seinen Anwalt wartete.
Unweit daneben sagte eine Frau:
»Nicht einmal saubere Leintücher waren da, und man hat welche bei der Frau des Verwalters holen müssen …«
Blaß, mit angespannten Zügen, aber resolutem Blick schrieb Jean Métayer:
4 .
5
Der zweite Tag
M
aigret schlief so unruhig und doch selig, wie man nur in einem kalten Zimmer auf dem Land schläft, wo es nach Stall, eingelagerten Äpfeln und Heu riecht. Von allen Seiten zog es. Und die Leintücher fühlten sich eisig an, außer genau dort, in der molligen, behaglichen Mulde, die er mit dem eigenen Körper erwärmt hatte. Also mied er, zusammengekuschelt, jede Bewegung.
Mehrmals hatte er den trockenen Husten Jean Métayers in der benachbarten Mansarde vernommen. Dann waren es die verstohlenen Schritte von Marie T a tin, die aufstand.
Er blieb noch ein paar weitere Minuten im Bett. Als er die Kerze angezündet hatte, fand er nicht den Mut, sich mit dem eiskalten Wasser im Krug zu waschen, verschob diese Prozedur auf später und ging in Pantoffeln, ohne Kragen hinab.
Unten goß Marie Tatin Petroleum auf das Feuer, das nicht in Gang kommen wollte. Sie hatte die Haare auf Röllchen gewickelt, und sie errötete, als sie den Ko m missar auftauchen sah.
»Es ist noch nicht sieben Uhr! … Der Kaffee ist auch noch nicht fertig …«
Maigret war etwas beunruhigt. Im Halbschlaf, vor einer halben Stunde, hatte er gemeint, ein Auto vorbeifahren zu hören. Saint-Fiacre liegt indessen nicht an der Hauptstraße. Es gab außer dem einmal täglich ve r kehrenden Autobus kaum einen Wagen, der durch das Dorf fuhr.
»Ist der Autobus weggefahren, Marie?«
»Nie vor halb neun! Meistens erst gegen neun Uhr …«
»Wird da schon zur Messe geläutet?«
»Ja! Im Winter ist sie um sieben Uhr, im Sommer um sechs … Wenn Sie sich aufwärmen möchten …«
Sie wies auf das Feuer, das endlich loderte.
»Kannst du dich nicht entschließen, mich zu duzen?«
Maigret bedauerte seine Frage gleich wieder, als sein rascher Blick das leicht kokette Lächeln erhaschte, das über das Gesicht der armen alten Jungfer glitt.
»Der Kaffee ist in fünf Minuten fertig …«
Vor acht Uhr würde es nicht hell sein. Die Kälte war noch empfindlicher als am Vortag. Maigret, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und bis über die Ohren herabgezogenem Hut, ging langsam auf den leuchtenden Fleck der Kirche zu.
Nichts mehr von Feiertag! Insgesamt waren drei Frauen im Schiff. Und die Messe hatte etwas Oberflächliches, Flüchtiges. Der Priester ging zu schnell vom einen Ende des Altars zum anderen. Zu schnell wandte er sich um, die Arme ausgebreitet, die Worte halb verschlu c kend.
Dominus vobiscum!
Der Chorknabe, der Mühe hatte nachzukommen, sagte »Amen« im falschen Moment, griff eiligst nach seinem Glöckchen.
Sollte die panische Stimmung vom Vortag ihre Wiederholung finden? Man hörte das Gemurmel der liturg i schen Gebete und manchmal das Schnaufen des Offizia n ten, der zwischen zwei Worten Atem holte.
Ite missa est …
Hatte diese Messe wenigstens zwölf Minuten gedauert?
Die drei Frauen erhoben sich. Der Pfarrer leierte das Schlußevangelium herunter. Ein Auto hielt vor der Ki r che, und alsbald vernahm man zögernde Schritte auf dem Vorplatz.
Maigret war hinten im Schiff stehen geblieben, gleich neben der Kirchentüre. So kam es, daß, als diese sich öffnete, der Neuankommende buchstäblich auf ihn stieß.
Es war Maurice de Saint-Fiacre. Er war so überrascht, daß er beinahe wieder umkehrte, murmelnd:
»Verzeihung … ich …«
Doch dann tat er einen Schritt vorwärts, bemüht, seine Selbstsicherheit wiederzufinden.
»Ist die Messe zu Ende?«
Er war in sichtlich nervöser Verfassung. Um seine Augen lagen dunkle Ringe, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Und mit dem Offnen der Türe hatte er die Kälte von draußen mitgebracht.
»Sie kommen aus Moulins?«
Die beiden Männer redeten leise, während der Priester das Schlußgebet sprach und die Frauen ihre Meßbücher schlossen, nach Regenschirm und Handtasche griffen.
»Wieso wissen Sie das? Ja … ich
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