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Maigret und die Tänzerin Arlette

Maigret und die Tänzerin Arlette

Titel: Maigret und die Tänzerin Arlette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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ihn einzuordnen, sich die Art seines Lebens vorzustellen.
    Soweit man es beurteilen konnte, war er ein Einzelgänger, und gerade das machte den beiden zu schaffen.
    »Glauben Sie, daß er versuchen wird, Philippe umzubringen?«
    »Das werden wir erst morgen früh wissen.«
    »Ich war vorhin in der Kneipe in der Rue de Douai. Die Inhaber sind Freunde von mir. Ich glaube, niemand kennt das Viertel so gut wie die. Im Laufe des Tages finden sich bei ihnen alle Arten von Gästen ein. Aber sie tappen auch im dunkeln.«
    »Dennoch ist Arlette irgendwo mit ihm zusammen gewesen.«
    »In seiner Wohnung?«
    Maigret hätte geschworen, nein. Das war vielleicht ein wenig lächerlich. Da man sozusagen gar nichts von Oskar wußte, wuchs er gleichsam ins riesenhafte. Ohne es zu wollen, ließ man sich schließlich von dem Geheimnis beeinflussen, das ihn umgab, und schrieb ihm vielleicht sogar mehr Scharfsinn zu, als er hatte. Es war mit ihm wie mit den Schatten, die immer viel eindrucksvoller sind als die Wirklichkeit, die sie wirft. Trotzdem war auch er nur ein Mensch wie andere, ein ehemaliger Diener-Chauffeur, der stets Lust auf Frauen gehabt hatte.
    Und schließlich wußte man, daß er in Nizza gelebt hatte. Wahrscheinlich hatte er dem Zimmermädchen, der kleinen. Antoinette Mejat, ein Kind gemacht, und sie war daran gestorben, und ebenso hatte er mit Maria Pinace geschlafen, die jetzt auf den Strich ging.
    Einige Jahre später hatte er sich unweit des Ortes, wo er geboren war, ein Haus gekauft, und das war typisch für einen Mann, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt und plötzlich zu Geld kommt. Er kehrte in seine alte Heimat zurück, um vor denen, die ihn in seiner Armut gekannt hatten, mit seinem Vermögen zu protzen.
    »Sind Sie’s, Chef?«
    Schon wieder das Telefon. Wieder die übliche Einleitung des Gesprächs. Lapointe hatte den Auftrag, ihn immer wieder anzurufen.
    »Ich spreche von einem kleinen Lokal an der Place Constantin-Pecqueur. Er ist in ein Haus in der Rue Caulaincourt gegangen und zum fünften Stock hinaufgestiegen. Dort hat er an eine Tür geklopft, aber es hat niemand geantwortet.«
    »Was sagt die Concierge?«
    »Es wohnt dort ein Maler, so eine Art Bohemien. Sie weiß nicht, ob er sich spritzt, meint aber, er sähe oft so komisch aus. Sie hat Philippe schon mehrmals zu ihm hinaufgehen sehen. Er hat manchmal auch dort geschlafen.«
    »Schwul?«
    »Wahrscheinlich. Sie glaubt, so was gäbe es nicht, aber sie hat ihren Mieter nie mit Frauen gesehen.«
    »Was macht Philippe jetzt?«
    »Er ist rechts eingebogen und geht in Richtung Sacre Cœur.«
    »Geht niemand hinter ihm her?«
    »Nur wir. Es ist noch alles in Ordnung. Bloß, es fängt eben an zu regnen, und es ist scheußlich kalt. Hätte ich das gewußt, hätte ich mir einen Pullover angezogen.«
    Madame Rosa hatte eine rotkarierte Decke auf den Tisch gelegt und in die Mitte eine dampfende Suppenterrine gestellt. Es war für vier gedeckt. Das Mädchen, das jetzt ein marineblaues Jackenkleid anhatte, half ihr beim Auftragen. Sie machte dabei einen so biederen Eindruck, daß man sich nur schwer vorstellen konnte, sie vor kurzem noch splitternackt auf der Tanzfläche gesehen zu haben.
    »Wundern würde es mich«, sagte Maigret, »wenn er niemals hergekommen wäre.«
    »Um sie zu sehen?«
    »Sie war nun einmal seine Schülerin. Ob er denn nicht eifersüchtig war?«
    Das war eine Frage, die Fred zweifellos hätte besser beantworten können als er selber, denn Fred hatte auch Frauen gehabt, die mit anderen schliefen, ja die er sogar zwang, mit anderen zu schlafen, und er wußte selber nur allzu gut, was man dabei für Gefühle hatte.
    »Auf die, die sie hier kennenlernte, war er bestimmt nicht eifersüchtig«, sagte er.
    »Glauben Sie?«
    »Sehen Sie, er war bestimmt sehr selbstsicher. Er war überzeugt, daß er sie fest in der Hand hatte, und daß sie ihm nie weglaufen würde.«
    Hatte die Gräfin ihren alten Mann von der Terrasse der Oase hinuntergestoßen? Das war durchaus anzunehmen. Hätte Oskar das Verbrechen begangen, hätte er nicht diese Gewalt über sie gehabt. Selbst, wenn er es in ihrem Einverständnis getan hätte.
    In dieser ganzen Geschichte steckte eine gewisse Ironie. Der arme Graf war vernarrt in seine Frau, fügte sich all ihren Launen, flehte sie demütig an, ihm einen kleinen Platz in ihrem Herzen zu gönnen. Hätte er sie weniger geliebt, hätte sie ihn vielleicht ertragen, aber gerade durch seine Leidenschaft war er ihr verhaßt geworden.

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