Malevil
verlieren, lasse ich Amarante an einer Steigung in Trab
fallen. Ich habe meine Mühe damit, denn sie wünscht sich nichts anderes, als mit ihren kraftvollen Beinen weiterhin den Waldboden
umzugraben. Wo der Pfad die Anhöhe erreicht, biegt er in rechtem Winkel ab, und hier halte ich an, damit die nachfolgenden
Stuten Amarante nicht entschwinden sehen. Zu meiner Rechten überragen riesige Farnkrautstauden |480| meinen Kopf, und durch ihre gezahnten Wedel kann ich zunächst tief unter mir die grauen Serpentinen der Straße nach La Roque
erkennen. In der entferntesten Kurve sehe ich plötzlich Vilmains Männer auftauchen und in lockerer Formation über die Straße
auf uns zukommen. Manche von ihnen tragen zwei Flinten.
Colin und Meyssonnier treffen ein, ich bedeute ihnen, still zu bleiben, und zeige auf die Gruppe. Mit angehaltenem Atem betrachten
wir ein paar Sekunden lang schweigend die Männer, die wir töten werden.
Meyssonnier bringt Mélusine an Amarante heran und beugt sich zu mir.
»Es sind aber nur sieben«, sagt er mit kaum vernehmbarer Stimme. »Wo ist der achte geblieben?« Das stimmt. Ich zähle, es sind
bloß sieben. »Ein Nachzügler, vermutlich.«
Ich setze Amarante wieder in Galopp, diesmal in kurzen Galopp. Dabei belasse ich es eine ganze Weile, denn beim Halt habe
ich bemerkt, daß die weißen Stuten schwer atmen. Im übrigen ist der Rausch des Rennens für mich schon vorüber. Der Sieg hat
nicht mehr den abstrakten Charakter des Überschwangs, der seinen Zauber ausmachte. Jetzt hat er das Gesicht dieser armen schwitzenden
Figuren, die sich mühselig auf der Straße daherschleppen.
Hier ist schon meine letzte Markierung auf dem Waldpfad. Ich gewahre sie in dem Augenblick, als ich sie zerreiße. Wir sind
da.
»Siehst du diese kleine Lichtung, Evelyne? Hier wirst du auf die Pferde aufpassen.«
»Auf alle drei? Kann man die Zügel nicht festbinden?«
Ich schüttle den Kopf. Die zwei Stuten kommen uns nach, die vier Reiter sitzen ab, und ich zeige Colin und Meyssonnier, wie
man die Zügel am Hals verknotet, damit die Tiere sich nicht mit den Füßen darin verfangen.
»Läßt du sie denn umherlaufen?« fragt Meyssonnier.
»Sie werden nicht weit laufen. Sie werden sich von Amarante nicht entfernen, und Evelyne wird Amarante halten. Colin, du zeigst
den anderen, wo es ist.«
Sie gehen weiter, und ich bleibe zurück, um Evelyne für den Fall, daß Amarante nicht mehr zu halten wäre, den Rat zu geben,
aufzusitzen und sie im Schritt in der Runde zu reiten.
|481| »Darf ich dir einen Kuß geben, Emmanuel?«
Ich beuge mich herunter, und im gleichen Moment stößt mich Amarante – es ist ihr Lieblingsspaß – mit ihrem Kopf in den Rücken.
Ich falle über Evelyne, genauer gesagt, auf meine Ellbogen. Wir sind beide so angespannt, daß wir nicht einmal daran denken,
zu lachen. Ich stehe wieder auf. Evelyne ebenso. Sie hat den Zügel nicht losgelassen. Die Angst hat ihr Gesicht älter gemacht.
»Schieß sie nicht tot, Emmanuel«, sagt sie leise. »Auf deinem Anschlag hast du ihnen versprochen, daß sie mit dem Leben davonkommen.«
»Hör zu, Evelyne«, sage ich, kaum meine Stimme beherrschend. »Es sind ihrer acht, und sie haben ausgezeichnete Gewehre. Wenn
ich, sobald sie auftauchen: Ergebt euch! rufe, können sie sehr wohl vorziehen zu kämpfen. Und wenn sie kämpfen, besteht die
Möglichkeit, daß jemand aus Malevil verwundet oder getötet wird. Möchtest du, daß ich das riskiere?«
Sie senkt den Kopf und schweigt. Ich lasse sie allein, ohne sie zu küssen, doch ein paar Meter weiter wende ich mich nach
ihr um und winke, worauf sie sofort zurückwinkt. Klein und zerbrechlich, einen Tupfer Sonne auf ihrem Haar, mit ihrem »Dolch«,
der vom Gürtel hängt, steht sie auf der Lichtung zwischen den riesigen Tieren, deren Kruppen ich dampfen sehe. Ein friedliches
Bild, das mir ans Herz greift, gerade als ich mich anschicke, den Befehl zu dem Blutbad zu geben.
Die Gruppe erwartet mich unmittelbar oberhalb der Straße. Ich erinnere an die Anordnungen. Nicht schießen, bevor nicht ein
langer Pfiff ertönt. Nach drei kurzen Pfiffen, Feuer einstellen. Ebenso erinnere ich an die Aufstellung. Da die zwei Bäume,
die den Draht mit meiner Proklamation tragen, im großen und ganzen die Mitte der Geraden bilden, nehmen Colin und ich beiderseits
der Straße zwanzig Schritt vor der Tafel Aufstellung, Meyssonnier und Hervé werden sich zwanzig Meter hinter der Tafel
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