Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
ich gekommen war, war viel zu brisant, als dass ich es unversucht gelassen hätte. Doch was hat Letitia eigentlich erwartet, nachdem sie mich über dich informiert und mich mit harschen Worten gebeten hat, dich von ihrem Hause fernzuhalten? Ihre Nachricht klang, als wüsste ich längst Bescheid, was aber nicht stimmte. Woher sollte ich es wissen? Was für eine elendige, hassenswerte …«
»Schon gut, schon gut«, lachte Katey. »Ich stimme dir zu. Was ihre Annahme betrifft, so könnte diese zustande gekommen sein, weil ich erwähnt habe, dass ich bei deinem Bruder wohne. Genau genommen war es Judiths Vorschlag. Sie meinte, das würde mir den Besuch ein wenig erleichtern. Sie sprach davon, ich würde mich in die Höhle des Löwen wagen. Bist du sicher, dass sie erst sieben ist? Ihre Auffassungsgabe und Intelligenz sind unglaublich für ein Kind ihres Alters.«
Anthony gluckste. »Ich weiß, was du meinst. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht in Erstaunen versetzt. Deshalb ist es manchmal eine große Erleichterung, wenn ich sehe, wie sie und Jack wie normale Siebenjährige kichern. Aber ich verstehe, warum ihr Vorschlag dir an dem Tag wenig Glück gebracht hat. Deine Tante hat etwas gegen mich oder möglicherweise gegen die ganze Familie. Ich weiß es nicht genau, und sie hat auch nie etwas verlauten lassen. Ich habe keinen blassen Schimmer, worauf ihre Ressentiments beruhen.«
»Ich hoffe nur, meine Großmutter ist nicht wie sie.«
»Nicht im Geringsten. Da es ihr an dem Tag nicht gut ging, habe ich sie nicht weiter mit Fragen bedrängt. Aber sie hat mir versprochen, dass wir uns eingehender unterhalten werden, sobald es ihr besser geht. Ich werde dich mitnehmen, wenn ich das nächste Mal zu ihr fahre. Ich bin mir sicher, dass du genauso neugierig bist wie ich, warum deine Mutter nach Amerika geflohen ist, statt zu mir zu kommen.«
Es waren friedliche Tage, und Katey freute sich über jede noch so winzige Information, die sie von ihrem Vater und ihrem Onkel erhielt, und auch darüber, dass die beiden sich die Zeit nahmen, mit ihr zu sprechen, sie an den Familiengeschehnissen teilhaben zu lassen. Jeden Abend jedoch, wenn sie in ihrer Koje lag, kreisten ihre Gedanken um Boyd.
Sie hatte auf seine Selbstherrlichkeit überreagiert. Was hatte er schon getan? Er hatte versucht, sie aus der Reserve zu locken, und sie war froh, dass er es getan hatte. Nur zu gut konnte sie sich an das letzte Abendessen mit ihm erinnern, ehe der Alkohol seine Wirkung entfaltet hatte. Daran, wie er ihr vorgeschlagen hatte, einen Tag am Strand einer der Inseln zu verbringen, an denen sie in Kürze vorbeisegeln würden. Und obwohl es in ihren Ohren wunderbar geklungen hatte, hatte sie wegen der Gefühle, die sie für ihn entwickelt hatte, abgelehnt. Und sie hatte gut daran getan, sich dagegen zu wehren, Zeit mit ihm allein zu verbringen. Das, was dabei herausgekommen war, sprach Bände. Dennoch wollte sie die Stunden, die sie mit ihm verbracht hatte, um nichts in der Welt eintauschen.
Von dem Moment an, in dem er von Hochzeit gesprochen hatte, war sie vor lauter Aufregung panisch geworden. Weil sie wusste, dass es das Ende der Reise bedeutete, dass sie seinetwegen davon abgelassen hätte. In jedem Argument, das sie vorgebracht hatte, warum sie nicht heiraten konnten oder sollten, steckte Wahrheit. Aber ausgesprochen hatte sie sie in erster Linie, um sich selbst zu überzeugen. Denn wenn sie nachgab, würde sie es irgendwann bereuen. Zu mächtig waren die Zweifel.
Und während er sich bereits auf der Überfahrt von Amerika nach England seinen Weg in die Tiefen ihres Verstandes und ihres Herzens gebahnt hatte, hatte sie Angst, er könnte nicht dasselbe für sie empfinden. Nichts außer Wollust. Hatte er je etwas gesagt, das sie nicht zu diesem Schluss kommen ließ? Nicht, dass sie ihn nicht auch begehrte. Ihr Verlangen nach diesem Mann versetzte sie immer wieder in Erstaunen. Doch ihre Gefühle reichten um einiges weiter. Bereits ein Tag, nachdem sie auf die Maiden George gewechselt hatte, hatte sie ihn schmerzhaft vermisst.
Kapitel 50
»Wie habe ich das gemacht?«, meinte Tyrus und stellte sich neben Boyd an die Reling. »Wir sind maximal einen Tag langsamer als sie und mussten dafür nicht einmal die Kanonen über Bord werfen.«
Boyd blickte die ganze Zeit über auf den geschäftigen Hafen von London. Wie viele andere Schiffe ankerte die Oceanus auf der Themse und musste auf einen Platz im Hafen warten, was tagelang dauern
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