Malory
war nicht hier, war nie hier gewesen.
Und Warren hatte sich ganz umsonst dem gefährlichen Kriegsherrn ausgeliefert, nur weil seine Schwester so wirre Schlüsse gezogen hatte. Der chinesische Herr war eigentlich gar nicht an der Vase interessiert. Er wollte nur Rache an Warren nehmen, deshalb hatte ihr Bruder weder Druckmittel noch einen Trumpf in der Hand. Und ihr treu liebender Ehemann hatte keinen Finger gekrümmt, um ihm beizustehen. Man hatte ihren Bruder umgebracht, und seine Mörder versuchten zu entkommen.
Zum Teufel, Georgina haßte es, so im ungewissen zu sein.
Nur weil sie gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, mußte sie doch nicht im Wagen sitzen bleiben und warten. Sie hätte mit hineingehen müssen, um aus erster Hand zu erfahren, ob sie ihren Bruder in den Tod oder zu Amys Rettung geschickt hatte.
Als ein fünfter Wagen vorfuhr, liefen alle Chinesen ins Hotel zurück. Georgina hielt es nicht länger aus. Eine gute halbe Stunde war inzwischen vergangen, Zeit genug, um jeden Handel abzuschließen – oder um einen Mord zu begehen.
Sie wollte aus der Kutsche steigen, doch bevor sie ihrem Fahrer sagen konnte, was sie vorhatte, tauchte eine weitere Schar Chinesen auf. Obwohl es mindestens zwanzig waren, erkannte Georgina den Kriegsherrn in seinen bunten Seidenge-wändern augenblicklich. Er sah völlig harmlos aus und gar nicht wie ein Mann, der fähig war, seine Lakaien zum Mord anzustiften, so wie er es damals in Kanton getan hatte. Aber er regierte sein Land als Gewaltherrscher und war berüchtigt für seine Grausamkeit.
Georgina beobachtete bang, wie die Männer in die fünf Kutschen stiegen, doch das war nichts im Vergleich zu ihrem Schrecken, als es immer mehr den Anschein hatte, daß niemand sonst das Hotel verlassen würde. Dann aber erschien Warren, dicht gefolgt von zwei Asiaten, und sie mußte beinahe lachen, als sie an die albernen Schreckensbilder dachte, die sie sich eben noch ausgemalt hatte. Es sah so aus, als würden sie Warren mitnehmen, aber wenigstens lebte er noch.
Bevor er die letzte Kutsche bestieg, schaute er zu ihr hinüber und schüttelte kaum merklich den Kopf. Was wollte er ihr damit sagen? Daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchte?
Daß sie die Kutsche nicht verlassen sollte? Daß sie keine Aufmerksamkeit auf sich lenken sollte? Was nur? Erneut schlug ihre Erleichterung, Warren am Leben zu wissen, wieder in Angst und Schrecken um: Was war mit Amy und James?
Atemlos starrte sie auf den Hoteleingang, doch als sich die Kutschen in Bewegung setzten, war noch immer nichts von ihnen zu sehen.
Bevor auch der letzte Wagen außer Sichtweite war, faßte sie rasch einen Entschluß. »Albert«, rief sie dem Fahrer zu, »folge der letzten Kutsche, in der mein Bruder sitzt, und stelle fest, wohin sie fährt. Dann komm sofort zurück. Ich will inzwischen nachschauen, wo mein Mann geblieben ist.«
»Aber Mylady ...«
»Keine Diskussionen, Albert! Und beeil dich, sonst verlierst du sie noch aus den Augen.«
Sprach’s und eilte davon, direkt in den zweiten Stock des Hotels. Ein heftiges Klopfen an der Wand wies ihr den Weg zu Warrens ehemaligem Zimmer.
»Na endlich, das wurde aber auch höchste Zeit«, war das erste, was sie beim Öffnen der Tür zu hören bekam. Und dann:
»Was zum Teufel machst du hier, George?«
Georgina fiel ein Stein vom Herzen. Und ihre Erleichterung schlug schnell in Belustigung um, als sie ihren Mann am Boden liegen sah, die Füße an die Wand gestemmt, gegen die er getrommelt hatte.
»Das gleiche könnte ich dich fragen, James – was in drei Teufels Namen machst du da unten?«
»Ich versuche, auf mich aufmerksam zu machen«, knurrte er. »Sicher wirst du mir jetzt weismachen, daß du mich drau-
ßen auf der Straße gehört hast.«
Sein gereizter Tonfall erinnerte sie an seine letzten Worte, bevor er Warren ins Hotel gefolgt war: »Du verläßt auf keinen Fall die Kutsche.« Daran hatte sie wohl auch Albert, der Kutscher, erinnern wollen.
»Das nicht gerade«, sagte sie und kniete nieder, um ihn von seinen Fesseln zu befreien. »Aber ich habe genau beobachtet, wer das Hotel verließ, und du warst nicht dabei. Das ändert die Sache doch wohl, meinst du nicht?«
»Nein, meine ich nicht. Ich finde es unerhört, wenn eine Ehefrau nicht tut, was man ihr sagt.«
»Rede keinen Unsinn«, fauchte sie. »Oder hättest du es vor-gezogen, wenn ich ihnen gefolgt wäre? In meiner Kutsche, versteht sich.«
»Gütiger Himmel, natürlich nicht.«
»Dann
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