Malory
mit seiner Suche begonnen, sondern war stattdessen Pirat geworden.
Das zweite Mitglied der Besatzung, das ihr Vater geschickt hatte, um über sie zu wachen, war unter dem Namen Jean Paul und einer Reihe anderer Namen bekannt. Als sie sich angefreundet hatten, hatte er Gabrielle unter dem Siegel der Ver-schwiegenheit anvertraut, dass sein wahrer Name Richard Allen laute. So viel hatte er ihr verraten, doch mehr über seine Vergangenheit und Herkunft erfuhr sie nie, und sie bedrängte ihn auch nicht. Er war kaum älter als Gabrielle und stach unter den Piraten nicht wegen seiner Größe oder seiner Schönheit hervor, sondern weil er sich selbst und seine Kleidung peinlich sauber hielt.
Er trug sein langes schwarzes Haar zu einem Zopf gebunden und sein Gesicht war bis auf einen gut gestutzten Schnurr-bart stets glatt rasiert. Seine Kleidung war ebenso abenteuer-lich wie die der anderen, aber fleckenlos rein, und seine hohen Stiefel glänzten immer. Allerdings trug er keinen auffälligen Schmuck, nur einen einzigen silbernen Ring mit einer Art Wappen darauf. Er hatte breite Schultern, war aber ansonsten eher schlank gebaut, und seine grünen Augen strahlten. Er schien unentwegt zu lächeln oder zu lachen und seine weißen Zähne zu zeigen. Gabrielle hielt ihn für einen sehr netten, aber auch sehr leichtherzigen jungen Mann.
Richard feilte ununterbrochen an seinem französischen Akzent, der jedoch immer noch so grauenvoll war wie bei ihrer ersten Begegnung. Wenigstens hielt er sich inzwischen zu-rück und fluchte nicht mehr ständig auf Englisch, wenn er sich aufregte, was seine wahre Nationalität natürlich sofort verriet.
Sie hatte ihn einmal gefragt, warum er sich so viel Mühe ge-be, wie ein Franzose zu wirken, während die meisten Piraten sich mit einem falschen Namen zufriedengaben. Daraufhin hatte er nur mit der Schulter gezuckt und gesagt, er wolle nicht wie die anderen Piraten sein und sei entschlossen, nicht aufzugeben, sondern seine Tarnung zu vervollkommnen.
Richard hatte ihr einmal erzählt, dass er ihr gern den Hof gemacht hätte, aber aus Angst vor ihrem Vater dem Drang widerstanden hätte.
Gabrielle hatte nur gelacht. Er war ein charmanter junger Mann, humorvoll und mutig, doch sie hatte in ihm nie etwas anderes als einen Freund gesehen.
Aber dass sie mit einem so hübschen jungen Mann wie Richard Allen nichts weiter als eine platonische Beziehung ver-band, bedeutete nicht, dass sie in den Jahren in der Karibik nicht der einen oder anderen romantischen Verlockung erlegen wäre. Es war jedoch ganz gut, dass die meisten netten Männer – abgesehen von Charles – Seeleute gewesen waren, denn das Letzte, was sie sich als Bräutigam wünschte, war ein Mann, der zur See fuhr. Schließlich hatte sie aus erster Hand erfahren, wie selten ein Seemann jemals zu Hause war.
Wenn sie heiratete, sollte der Mann das Leben auch mit ihr teilen. So stellte sie sich eine Ehe vor. Wenn er monatelang fortblieb, wie es bei Seeleuten üblich war, wenn sie die meiste Zeit allein war, was machte es dann für einen Sinn zu heiraten?
Ihre Mutter war ähnlicher Meinung gewesen. Über die Jahre hatte sie Gabrielle immer wieder gewarnt, dass es sinnlos sei, einen Mann zu lieben, der die See liebe. Dieser Wettstreit sei nicht zu gewinnen.
»Warum hast du dich so über ihn geärgert, chérie?«, fragte Richard, während er im Zimmer auf und ab ging.
Gabrielle wusste genau, von wem er sprach – von dem attraktiven Mann, den sie im Hafen getroffen hatte –, denn sie versuchte schon die ganze Zeit, »ihn« aus ihren Gedanken zu verbannen. Doch sie wollte die Antwort lieber für sich behalten, deshalb erwiderte sie bloß: »Ich war nicht verärgert.«
»Du hättest ihm fast den Kopf abgerissen.«
»Unsinn. Ich war nur erschrocken«, entgegnete sie. »Der Wagen hätte mich umreißen können, wenn der Mann mich nicht festgehalten hätte. Aber er hat meinen Arm so ge-quetscht, dass ich mir wohl weniger wehgetan hätte, wenn ich tatsächlich gestürzt wäre, also hätte er sich das auch sparen können.«
Das war eine glatte Lüge. Richard hob eine Braue, um an-zudeuten, dass er sie durchschaute, woraufhin Gabrielle errö-
tete, und es mit einer anderen Begründung versuchte, die der Wahrheit näher kam.
Sie gab zu: »Seit wir die Segel gesetzt haben, bin ich ziemlich nervös.«
»Hisst die Segel!«, kreischte Miss Carla.
Alle vier Augenpaare richteten sich auf den leuchtend grünen Papagei, der in seinem kleinen hölzernen
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