Man muss das Kind im Dorf lassen: Meine furchtbar schöne Jugend auf dem Land (German Edition)
draußen. Dann hinüber zum heimatlichen Hof, wo sie sich in ihrem Zimmer verbarrikadierte und in der ganzen Nacht kein Auge mehr zutun sollte.
Als sie beim ersten Morgengrauen hörte, dass die Bäuerin in der Küche Feuer machte, ging sie, immer noch vor Angst zitternd, in ihrem Nachthemd in die Küche hinunter, um zu erzählen, was sie Schreckliches gesehen hatte. Nach und nach war sie umringt von den anderen Mägden, den Knechten und dem Bauern, deren Arbeitstag allmählich beginnen sollte. Vor allem die Knechte zogen sie mächtig auf und meinten, sie habe wohl schlecht geträumt: »Do musst halt auf d’Nacht a Halbe Bier trinken wie mir, dann schlafst gut, anstatt dass du so einen Schmarrn träumst!«
Sie beharrte aber darauf, dass sie die Toten gesehen, ja sogar einzelne Gesichter erkannt habe und dass sie nie wieder in die Kirche würde gehen können. Die Knechte wollten ihr beweisen, dass es diese Totenmesse nie gegeben hatte und dass die Kerzen bestimmt noch alle neu aufgesteckt auf den Kerzenständern auf dem Altar stünden, so wie der alte Dorfmesner sie eben nach der letzten Messe verlassen habe. Deshalb gingen zwei von den Knechten hinüber zum Friedhof, öffneten die Kirchentür, und was sahen sie, als sie eintraten? Die Altarkerzen waren alle bis auf den letzten Stumpen hinuntergebrannt, und gleich beim Eingang links neben dem Weihwasserkessel lagen die Hausschuhe der Magd.
An dieser Stelle der Geschichte kuschelte sich mein kleiner Bruder Sepp immer eng an den Opa, und wir alle sahen ihn mit großen Augen an. Der Opa meinte nur: »Kinder, es gibt halt arme Seelen, die finden nicht gleich immer a Ruh.« Wir Kinder hatten furchtbare Angst, dass die armen Seelen auf der Suche nach dem ewigen Frieden vielleicht auch bei uns im Zimmer vorbeischauen könnten, und wir fragten den Opa, was wir denn tun könnten, damit die armen Seelen einen größeren Bogen um den Heimer-Hof machen und zum Beispiel erst im Nachbarort Reichenkirchen nach ihrem Seelenfrieden suchen würden. Der Opa meinte daraufhin immer: »Kinder, man muss immer für die armen Seelen der Verstorbenen beten, damit sie ihren Frieden finden!« Und das taten wir dann ab sofort auch ganz brav: Ich betete jeden Abend vor dem Einschlafen für Mama, Papa, für meine Brüder, für Oma und Opa, für gute Noten in der Schule, für ein Sweatshirt der Marke Chiemsee, dafür, dass ich einen schönen Busen bekommen würde, und natürlich – last, but not least – für die armen Seelen. Und ich muss sagen, an meiner Bilanz gibt es nicht viel zu meckern: Gut, Oma und Opa sind längst verstorben, aber die Oma wurde siebenundachtzig und der Opa stolze fünfundneunzig Jahre. Mama, Papa und meine Brüder sind bis heute gesund, munter und fidel. Mein Abitur machte ich auch mit einem sehr ordentlichen Durchschnitt, und ein Chiemsee-Sweatshirt bekam ich zwar nie von meinen Eltern, aber ich kaufte es mir schließlich bei Schuh & Sport Gerlspeck in Erding von meinem ersten Geld, das ich mit vierzehn jeden Freitag nach der Schule bei einer Baumarkt-Kette selbst verdient hatte. Nur beim Wunsch mit dem Busen muss Gott nicht ganz so genau zugehört haben oder von irgendetwas Wichtigerem abgelenkt worden sein. Nun ja. Wahrscheinlich hatte er einfach andere Prioritäten als ich, oder er hatte mit Heidi Klum so viel Arbeit, dass nicht mehr genügend Zeit für mich übrig blieb. Aber armen Seelen bin ich bis heute – toi, toi, toi – nicht begegnet, obwohl ich zugeben muss, dass mich keine zehn Pferde nachts auf einen Friedhof bringen würden. Und obwohl ich weiß, dass die Knechte damals recht hatten und die größte Gefahr nicht von den Toten, sondern von den Lebenden ausgeht, bete ich trotzdem ab und zu für die armen Seelen aller Verstorbenen. Sicher ist sicher.
Ungeschriebene Gesetze des Landlebens
Wenn man wie ich zeit seines Lebens auf dem Land gelebt hat, dann stellt man fest, dass es dort eine Art ungeschriebenes Regelwerk von klaren Richtlinien, Gepflogenheiten und Anstandsregeln gibt. Diese dienen nicht nur dazu, jeden einzelnen Tag und auch das ganze Jahr zu gliedern und zu regeln, sondern vereinfachen auch das gesellschaftliche und familiäre Zusammenleben. Die Regeln des bayerischen Landlebens werden meistens von Frauen festgelegt, aus dem einfachen Grund, dass nämlich die Frauen schon traditionsbedingt die Eckpfeiler des familiären und auch des gesellschaftlichen Lebens bestimmen. Und überhaupt: Weil sie – wie wir ja alle inzwischen wissen – das
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