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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Warman
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Haarlocke hinter ihr Ohr streicht, bemerke ich, dass sie ein Paar meiner Flambeau-Ohrringe trägt, die meiner Mutter gehörten, bevor ich sie bekam. Seltsamerweise stört es mich nicht, dass sie sie genommen hat; mir ist es lieber, dass sie sie trägt, als dass sie irgendwo Staub ansetzen. Allerdings frage ich mich, ob mein Vater weiß, dass sie die Ohrringe hat, oder ob es ihm auffallen würde. Falls ja, hätte er dann etwas dagegen? Es ist zwar noch nicht Mittag, doch ich zweifle nicht daran, dass er bereits auf der Elizabeth ist, aufs Wasser hinaus starrt und darauf wartet, dass etwas – irgendetwas – einen Sinn ergibt.
    Mr. Riley sieht Josie an. »Das mit deiner Schwester tut mir sehr leid. Ich hatte leider bislang keine Gelegenheit, dir das zu sagen.«
    »Vielen Dank.« Josie schaut ihm geradewegs in die Augen. Ich weiß, dass ihm dabei unbehaglich zumute wird; wie könnte es auch anders sein? Man stelle sich vor, man müsste der Welt jeden Tag mit verschiedenfarbigen Pupillen ins Antlitz blicken. Nach einigen Sekunden wendet er den Blick ab.
    »Sie mochte Sie«, sagt Josie zu ihm.
    »Ich mochte sie ebenfalls.«
    »Also … Verraten Sie uns nicht, okay? Wir tun ja nichts Falsches.«
    Mr. Riley sieht sie alle mit leicht geöffnetem Mund an. Er wirkt klein und gehemmt; seine unterschiedliche Augenfarbe ist so gemein auffällig. Selbst als Erwachsener – als Lehrer, als Autoritätsperson – ist er außerstande, sich gegen eine Gruppe Jugendlicher zu behaupten. »Das glaubt ihr doch nicht wirklich, oder?«
    Sie antworten ihm nicht.
    »Seht euch nur an«, sagt er, mit einem plötzlichen Ausbruch untypischen Selbstvertrauens. »Zuerst wart ihr zu sechst, dann zu fünft, und jetzt seid ihr noch vier. Ihr seid nicht unantastbar, Kinder. Ich dachte, das hättet ihr mittlerweile erkannt.«
    »Alex.« Ich lege ihm eine Hand auf den Arm. Ich fühle mich ruhelos, aufgewühlt und aufgeregt zugleich. »Ich habe eine Idee.«
    Topher schnippt seine Zigarette zu Boden, in Mr. Rileys Richtung. »So können Sie nicht mit uns reden.«
    Mr. Riley steht einfach bloß da, mit gerötetem Gesicht und finsterer Miene. Dann beginnt er sich zurückzuziehen.
    »Will er nicht irgendwas unternehmen?« Alex brüllt es beinahe. »Will er ihm das einfach durchgehen lassen?«
    »Hey.« Ich drücke seinen Arm. »Komm mit. Ich glaube, ich weiß, wo Richie ist.«

17
    Die Erinnerungen kommen jetzt schneller zurück, mit weniger Vorwarnung oder Zeit, um mich darauf einzustellen. Ich konzentriere mich weniger vorsätzlich darauf als zuvor; stattdessen falle ich einfach zufällig in sie hinein, und ich werde zunehmend besser darin, auf sie zuzugreifen. Während mir mehr und mehr einfällt, ist es, als würde ein Puzzleteil nach dem anderen dazukommen, eins nach dem anderen. Das Bild meines Lebens, das sich daraus ergibt, gefällt mir zwar nicht unbedingt, aber ich bin dankbar dafür, jetzt wenigstens etwas anderes vor mir zu haben als ein leeres, mit einigen wenigen willkürlichen Einzelheiten versehenes Blatt Papier.
    In einer Erinnerung fahre ich mit dem Rad mit Stützrädern auf dem Gehsteig entlang, derweil meine Eltern hinter mir stehen und mir nervös zuschauen. In einer anderen bin ich mit Josie bei einer Pyjamaparty in Meras Elternhaus. Wir sind vielleicht elf Jahre alt. Es ist mitten in der Nacht, und wir trinken Diätlimonade direkt aus einer Zwei-Liter-Flasche, die wir wie Alkohol herumgehen lassen, während wir Wahrheit oder Pflicht spielen. Einige Sekunden später sehe ich mich in der Highschool; dem Aussehen meines Haars und meiner Kleidung nach zu urteilen bin ich vermutlich in der neunten oder zehnten Klasse. Ich sitze im hinteren Bereich des Beschäftigungsraums, meinen Tisch dicht an Richies herangezogen, während wir uns gegenseitig in unsere Geschichtshefte kritzeln.
    Fast so schnell, wie sie kam, vergeht die Erinnerung wieder, um durch eine andere ersetzt zu werden. Diesmal ist es ein früher Wintermorgen. Ich bin zu Hause. Mein Elternhaus besitzt immer noch seine antiken Originalfenster. Sobald die Temperatur unter ein gewisses Maß sinkt, bilden sich auf der Innenseite des Glases Frostblumen. Ich beobachte mich selbst dabei, wie ich in meinem unordentlichen Zimmer stehe, in Thermallaufhosen nebst Oberteil Dehnübungen mache und mich einen Moment lang nach vorn lehne, um mit einem künstlichen Fingernagel meine Initialen in den Frost auf meinem Fenster zu schreiben: E. V. _ R. W. Ich bin jetzt älter, ein bisschen dünner. Ich

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