Manche Maedchen muessen sterben
soll. »Ist das für dich etwas Gutes?«
Das Lächeln meiner Mom gerät ins Wanken. »Ja.« Und sie schnappt sich eine Flasche Wein und macht sich auf den Rückweg ins Esszimmer. »Jetzt komm mit. Lass uns gute Miene zum bösen Spiel machen.«
Seit Alex fort ist, habe ich viel Zeit zu Hause verbracht. Mein Dad ist nur selten hier; normalerweise hält er sich auf dem Boot auf. Nicole ist eifrig damit beschäftigt, ehrenamtliche Arbeit für die Spiritistenkirche zu leisten, was immer genau das auch sein mag. Auren lesen. An Séancen teilnehmen. Sich an die Ehemänner anderer Frauen heranmachen, nur für den Fall, dass eine der Frauen in nächster Zeit stirbt.
Wie ich bereits sagte, wurde in unserer Familie nie darüber gesprochen, wer wirklich Josies Vater ist, auch wenn mir jetzt bewusst wird, dass das Thema stets allgegenwärtig war, unmittelbar unter der Oberfläche. Als ich meine Mutter verlor, war ich noch so jung, und ich habe Josie immer geliebt. Nicole war immer nett zu mir. Ich bin vielleicht mit den Gerüchten über die angebliche Affäre zwischen ihr und meinem Vater aufgewachsen, aber ich glaubte, ich wüsste es besser; ich dachte, das sei unmöglich. Nie hätte ich geglaubt, dass mein Vater imstande wäre, meine Mutter zu betrügen.
Doch offensichtlich war er das durchaus.
Mit anzusehen, wie Nicole bei der Dinnerparty unter dem Tisch den Fuß meines Vaters liebkoste, direkt unter der Nase meiner Mutter, war schlimm. Besonders jetzt, wo ich weiß, was seelischer Druck anrichten kann, wenn man bereits an einer Essstörung leidet. Immerhin hörte ich selbst ebenfalls auf zu essen und gab mich ganz dem Laufen hin, als die Schuldgefühle wegen Alex’ Tod mich von innen her aufzufressen drohten. Alle nahmen an, ich würde meiner armen toten Mutter nacheifern. Niemand hat zwei und zwei zusammengezählt; hätten sie das getan, wäre vielleicht alles anders gekommen. Na ja, wahrscheinlich nicht alles – Alex wäre trotzdem noch tot. Und es wäre nach wie vor alles meine Schuld.
Jetzt, wo Alex fort ist, versuche ich verzweifelt, auch mein Herumwandern in der Stadt irgendwie zu beenden. Ich erwarte ständig, dass er wieder auftaucht, um eine abfällige Bemerkung über mich oder meine Freunde anzubringen, doch nachdem ich mehrere Tage allein verbracht habe, in denen ich beobachtet habe und in Erinnerungen aus meiner Kindheit eingetaucht bin, weiß ich, dass er nicht mehr zurückkommt. Ich hoffe, dass es dort, wo immer er auch sein mag, schön ist. Ich hoffe, dass es friedvoll ist. Ich hoffe, dass dort Güte herrscht.
Es ist ein sonniger Nachmittag. Josie und Nicole sind in der Küche und machen Eier-Frittatas. Mit richtigen Eiern. Selbst als Geist überkommt mich ein Schaudern. Der Fettgehalt (sieben Gramm). Die Kalorienanzahl (siebzig Kalorien pro Ei). Ich glaube, mein letztes ganzes Ei habe ich im Alter von zehn Jahren gegessen. Einige Dinge, die wir von unseren Eltern lernen, gehen uns einfach in Fleisch und Blut über. Meiner Mutter – meiner wahren Mutter – graute es vor Fett. Genau wie mir. Und das schon bevor ich Alex getötet habe. Das war ein Problem; das begreife ich jetzt. Neunjährige sollten keine Fettgramm zählen. Neunjährige sollten Eier essen dürfen. Man sollte ihnen erlauben, Erdnussbutter zu mögen.
Nicole schenkt ihrer Tochter ein verstohlenes Lächeln. »Wie angenehm. So entspannt hatten wir es schon nicht mehr seit … nun, seit Ewigkeiten.« Sie zwinkert ihr zu. »Möchtest du einen Mimosa?«
»Mom!« Josies Wangen erröten. »Dad wäre sauer.«
»Dad ist nicht hier, oder?« Nicole öffnet den Kühlschrank und holt eine Tüte Orangensaft daraus hervor. Sie köpft gerade eine Flasche Moët, als wie aufs Stichwort mein Vater zur Vordertür hereinkommt.
»Mist!«, murmelt Nicole. Aber sie kichert. Der Champagner blubbert schäumend über den Flaschenhals und bildet auf dem Boden kleine Pfützen. Sie mixt in Champagnergläsern zwei Mimosas (mit viel Champagner und wenig Orangensaft) und wendet ihre Aufmerksamkeit dann wieder der Frittata zu, während sie an ihrem Drink nippt und vorgibt, nicht zu bemerken, wie mein Vater in die Küche schlurft.
Er trägt ein durchgeknöpftes Flanellhemd und graue Jogginghosen. Sein Bart ist dicht und buschig genug, um einer ganzen Eichhörnchenfamilie Zuflucht zu gewähren. Er macht sich schon seit Monaten nicht mehr die Mühe, seine Kontaktlinsen einzusetzen, nicht seit meinem Tod, und trägt stattdessen seine Brille. Er steht im Türrahmen
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