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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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Jacke genommen hatte, während sie unter der Dusche stand. Beim Anblicks dieses Fotos war ihm klar geworden, dass sie ihn gleich zu Anfang belogen hatte: Plötzlich stand sie vor seiner Tür, die Hände noch immer schmutzig von Asche, die Tausende von Meilen entfernt war, das Haar fünfundzwanzig Zentimeter kürzer und an den Spitzen gekräuselt, ohne je zu erwähnen, dass das Haus im Reservat nicht mehr stand. Nicht, ehe er danach fragte.
    Jude drehte sich um und blickte durch die Spiegelglastüren des Bürogebäudes zum Fluss, der in den letzten Stunden noch mehr angeschwollen war. Das Wasser wirkte nicht mehr ganz so dickflüssig, und er sah den Tisch am Ufer, an dem er gesessen hatte. Die Beine standen nun zum Teil im Wasser, und die Tür zum Pub war geschlossen und mit Sandsäcken gesichert. Langsam wandte sein Verstand sich wieder dem Problem Iwanow zu – die langfristige Untersuchung, an der er gearbeitet hatte, bis White Horse zu ihm gekommen war.
    Juri Iwanow bewegte sich wie ein Fluss, in unsichtbaren Strömungen, und seine Hand reichte von einer Minute zur anderen plötzlich viel weiter, als gerade noch möglich erschienen war. Iwanow war nur eine seiner Gestalten – die erste, in der Jude seinen Weg gekreuzt hatte. Er besaß noch viele andere Namen und Persönlichkeiten; wie viele, wusste nur der Mann selbst, und sie zu ermitteln, bedeutete nicht etwa, dass man nur eine einfache Papierspur zu verfolgen hatte – Geburtsurkunden, Pässe, Fotos, Führerscheine und Adressen. Nein, seine chamäleonhaften Persönlichkeitsänderungen waren viel umfassender – mindestens ein tief greifender Eingriff eines plastischen Chirurgen hatte Iwanows Gesicht von seinem früheren Zustand in sein derzeitiges Äußeres verwandelt: breite, mongolische Züge und glattes, schwarzes Haar. Schon für sich allein genommen, hätte so etwas bei jedem Verdächtigen Judes Interesse geweckt, doch nahm man Iwanows weit gefächerte Qualifikationen hinzu – wissenschaftlicher, philosophischer und krimineller Natur –, wurde der Mann zu einem wandelnden Rätsel. Zufällig arbeitete Iwanow auf genau den Feldern, die auch Jude beackerte: technische Durchbrüche, soziale Anpassung und Perfektionierung.
    Eine Frau im Regenmantel hastete herein, um einen Anruf zu machen. Jude verließ das Gebäude und bog ziellos in eine Nebenstraße ein.
    Perfektionierung hat in England noch nicht richtig Fuß gefasst, überlegte er, während er beobachtete, wie gleich vor ihm auf der Brücke eine farbenfrohe Traube aus Regenschirmen die andere jagte. Und er war froh. Er mochte diesen Ort mit seinen stillen, verrückten Ecken, seinen winzigen, unausgewogenen Gebäuden, dem Fluidum des Alters und der Dauerhaftigkeit, so illusorisch dies auch sein mochte.
    Der Gedanke an Iwanow erinnerte ihn daran, dass es Zeit war, sich mit Mary in Verbindung zu setzen. Er musste erfahren, wie sie während seiner Abwesenheit mit ihrem gemeinsamen Fall vorankam. Seine Begeisterung darüber war ungefähr so nasskalt wie der Bürgersteig unter seinen Füßen. Er verschwendete zehn Minuten mit einem Kaffee von Burger King, weil er glaubte, dadurch seinem Zuhause näher zu sein, doch der Kaffee schmeckte überhaupt nicht amerikanisch, und plötzlich sehnte er sich nach dem feuchten, heißen Washingtoner Sommer. Dass es im Sommer ständig kalt und nass war, konnte nicht richtig sein. Der Kaffee schmeckte wie schlammiges Flusswasser. Der Teil von ihm, der sich stumm mit Natalie Armstrong verständigt hatte, wertete es als Zeichen, dass die Mission so gut wie gescheitert war.
    Hätte er nur einen Funken Verstand, sagte er sich, wäre er mit dem nächsten Taxi zum Flughafen gefahren, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Völlig unvorstellbar, dass er damit durchkam. Er zog die Schultern zusammen und hob den Mantelkragen, als es zu nieseln begann, aber er dachte wieder an Natalie Armstrong und wusste, es war zu spät, um heimzukehren.
    In einem Café vor den Stadtmauern, an einer von Platanen gesäumten Vorstadtstraße, machte er einen verschlüsselten Pad-Anruf und erreichte endlich Mary.
    Er saß mit dem Rücken zum Fenster, löschte den Yorker Hintergrund und ersetzte ihn durch ein Bild des Capitol Hill in Seattle, damit es schien, als wäre er, wo sich aufzuhalten er behauptete. Mary sah müde aus; im Sonnenlicht wirkte ihre kupferne Haarmähne verblichen. Es war früher Morgen, und sie stand in einer anonymen Ecke auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums in Orlando und meldete

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