Mappa Mundi
Jude zu seinem Widerwillen, dass das gensequenzierende Labor, das sie observiert hatten, sich über Nacht aus dem Staub gemacht habe.
»Alles rausgeschafft. Sie sind schon lange fort. Die Papiere bringen sie immer noch mit den Baby-Dealern von Fort Lauderdale in Verbindung, aber wir haben keinen Beweis, dass sich dort ein Perfektionierungsdelikt ereignet hat. Solange ich nicht herausfinde, wo sie hin sind, und jemanden ausfindig mache, der redet, ist es wohl vorbei.« Sie gähnte und nahm das Pad in die andere Hand.
»Kannst du sie durch eine forensische Gen-Abtastung identifizieren?« Jude setzte keine große Hoffnung darin: Die Datenbanken zur nationalen Erkennung waren meist von Leuten zusammengestellt, die bereits zum Strafvollzugssystem gehörten, nicht von gewöhnlichen Bürgern wie Wissenschaftlern, und die Systeme, in denen die Informationen gespeichert waren, galten als leichtes Ziel für jeden Hacker. Mit ausreichend Zeit konnte Iwanow alles gelöscht haben, was er löschen wollte.
»Wir versuchen es, aber die haben gut hinter sich aufgeräumt.« Sie schüttelte den Kopf, und er stellte sich vor, dass er die Wärme des kommenden Tages in ihren Haarlocken tanzen sah. »Keine Spur von ihm«, fügte sie hinzu, bevor er etwas sagte, weil sie genau wusste, dass er als Nächstes nach Iwanow fragen würde.
Jude beendete den Anruf mit ein paar freundlichen Floskeln. Dass er sie belog, machte es ihm unmöglich, sich auf normale Weise mit ihr zu unterhalten, denn sie waren befreundet. Er verabscheute seine Situation und das Gefühl, billig und schmutzig zu sein – er wurde es nicht los. Er wollte nicht, dass Mary ihm seine Nervosität anmerkte. Deshalb erfand er eine kleine Segeltour auf dem Sund und behauptete, einige Tage in den Olympic Mountains wandern zu wollen, weil er Bewegung brauche; er fragte sie, wie es ihr gehe, und verabschiedete sich mit einem Grinsen.
Draußen ließ der Regen nach, und die Sonne kam heraus. Jude trank die Tasse englischen Tee leer, und Kopfschmerzen, Nachwirkungen seines Mittagsbiers, pochten hinter seiner Stirn. Er ging zur Pension zurück und zog sich zu einem Lauf am Flussufer um. Beim Joggen beobachtete er, wie der Fluss langsam zu einer Welle beiläufiger Vernichtung anschwoll.
Die Bewegung tat ihm gut; sie fühlte sich an wie ein Fortschritt und linderte die zermalmende Anspannung, mit der er Natalie Armstrongs Rückruf erwartete. Jude lief eine weite Strecke, bis er die Stadt hinter sich gelassen hatte und auf offenes Land geriet. Dort durchnässte ihn ein neuerlicher Schauer bis auf die Haut. Später, nachdem er ein Duschbad genommen hatte und sich in seinem Zimmer abtrocknete, versuchte er die riesigen Dateien über den Fall Iwanow erneut zu lesen und schlief nach zwei Minuten auf dem Bett ein, das Pad in der Hand, die Notizen über Gensequenzierung auf dem Schirm, die Protokolle, die Zeiten, die Sichtungen … sämtlich Einzelheiten ohne Beweiskraft, die sich dennoch zu etwas zusammenfügen mussten. Aber zu was? Zu was? Und wenn man in Orlando keine Beweise finden konnte, dann wo, bei wem, und wie?
Nervös und gereizt schaltete Mary Delaney nach dem Gespräch mit Jude ihr Pad ab und ging die letzten Meter zu ihrem Wagen. Sie ließ den Motor an und sog tief die kühle Luft aus der Klimaanlage ein, während sie darauf wartete, dass ihr Datapilot die Analyse des Anrufs durchgab. Als diese eintraf, kaute Mary frustriert auf den Haarspitzen. Aus Seattle war der Anruf jedenfalls nicht gekommen, doch war die Übertragung zu früh abgebrochen worden, um sie zurückzuverfolgen. Der Hintergrund jedenfalls war gefälscht.
Sie starrte aus dem Seitenfenster und überlegte. Jude besaß den Verstand, den man brauchte, um solch eine Täuschung durchzuziehen. Aber wo war er? Und was hatte er vor?
Sie schloss die Augen und betete, dass es nichts mit Mappa Mundi zu tun hatte. Sie flehte inbrünstig, aus tiefstem Herzen, doch als sie die Augen öffnete, erwartete sie keine Erlösung – sie sah lediglich die Front von WalDrug und ein Kind mit einem Stieleis, das wie gebannt auf die geschwärzten Scheiben ihres Porsche starrte und sich das T-Shirt mit blauen Tropfen befleckte.
Durch den eisigen Zug aus den Lüftungsschlitzen fühlte ihre Bluse sich allmählich an wie kaltes Wasser. Sie regelte den Strom herunter und schaltete das Pad ein; dann sendete sie einen Bericht an ihre Vorgesetzte in Washington, Conchita Perez, Chefin der Special-Sciences-Sonderabteilung. Anschließend gab
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