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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justina Robson
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Satellitennachricht aus den USA eintraf und der oberste Projektleiter, Michail Guskow, sie alle online begrüßte und über den Stand der Dinge unterrichtete.
    An der Besprechung in der Yorker Klinik nahm das ganze Land teil, nicht nur Natalie und ihr hiesiges Team. Im Konferenzsaal saßen mehr als hundert Teilnehmer; Natalies Verspätung wurde nur vom Automatik-Protokoll an der Tür bemerkt, das ihre Referenzen überprüfte und ihr eine Abart des üblichen Ministeriumsvortrags überspielte, was man von hoch bezahlten Vertragspartnern erwarte. Sie löschte die Datei gerade wieder, als auf dem großen Bildschirm des Vortragssaals die Ansprache begann. Augenblicklich wurde es still.
    Michail Guskow war Mitte fünfzig, strahlte jedoch die Tatkraft eines Jüngeren aus – vielleicht hätte sie sogar für mehrere jüngere Männer gereicht. Sie blitzte ihm aus den blauen Augen, vibrierte in seinem dichten Kinnbart, seinem rauen Schnurrbart und dem schlecht geschnittenen Haarschopf, der grau-braun sein Haupt bedeckte. Natalie erinnerte er immer an das Alphamännchen eines Wolfsrudels, und ohne Zweifel fühlte er sich auch als solches, denn sein väterlicher Stolz war selbst nach der meilenweiten Übertragung noch spürbar. Natalie wusste nicht, wo er sich aufhielt – das wusste niemand –, doch für die Dauer der Verbindung war er im Vortragssaal präsent, und alle hingen an seinen Lippen.
    »Liebe Freunde.« Er begann wie immer, voller Wärme und guter Laune. »Es war eine Freude, Ihre Berichte zu lesen und Sie nun alle wiederzusehen. Jeder von Ihnen, darf ich voller Zufriedenheit sagen, hat uns unserem Ziel, der Kartierung des menschlichen Verstands, einen Schritt näher gebracht. In der vergangenen Stunde hat ein Simulationslauf eine sechzigprozentige Übereinstimmung zwischen dem synthetisierten theoretischen Modell und der tatsächlichen Nervenfunktion ergeben. Nur Sie und ich wissen, was das wirklich bedeutet.« Er wartete und wurde nicht enttäuscht, denn schlagartig erhob sich in jedem Saal, zu dem er sprach, aufgeregtes Wispern; die Zuhörer auf der ganzen Welt wurden lebhaft, und auf müde Gesichter trat neue Begeisterung.
    Natalie beobachtete den dynamischen Fluss der Energie, als wäre sie eine fassbare Flüssigkeit. Sie durchströmte auch Natalie – auch sie wurde von der Woge erfasst, obwohl sie nur Beobachterin und keine Teilnehmerin war. Sie überschlug, dass Guskows Nachricht nur eins bedeuten konnte: Zeitdruck war kein Problem mehr. Es hatte die beängstigende Unsicherheit gegeben, ob die Kreuzkartierung von Verstand und Materie in einem Individuum eine Berechnung darstellte, die NP-complete war oder nicht. NP-complete Probleme erfordern zu ihrer Lösung mehr Zeit, als im Universum existiert. Doch nun, als Guskow die sechzigprozentige Korrelation präsentierte, war die Aufregung grenzenlos. Nur noch vierzig Prozent fehlten! Sechs Jahre seit Entwicklung der NervePath-Technik und zehn Jahre nach der erfolgreichen Produktion von nanomedizischen Geräten näherte sich die größte und ehrgeizigste wissenschaftliche Anstrengung ihrem Ende.
    Man würde den menschlichen Verstand umfassend erforschen und, wenn man weiterzudenken wagte, genaue Kenntnisse von der Essenz jeder lebendigen Person erlangen. Hätte Natalie an Seelen geglaubt, hätte sie nun Furcht empfunden, denn selbst dieses letzte geheiligte Etwas befand sich dann nicht mehr außerhalb ihrer Reichweite, sondern war messbar, definierbar, kartierbar geworden. Bald schon konnte sie zeigen, wo die Seele war oder wo nicht, so wie sie auf die Karte des Verstands weisen und erklären könnte: »Sehen Sie, Mrs Jones, deshalb fühlen Sie sich so schlecht – genau hier an dieser Stelle versagt die Querbeziehung zwischen Ihrer Weltsicht und Ihren Erfahrungen. Machen Sie sich keine Gedanken, Sie leiden nur unter einem nervösen Zusammenbruch, das ist ganz natürlich, und wenn Sie einfach abwarten, kommen Sie wieder in Ordnung.«
    Und wenn Mrs Jones nicht so lange warten konnte, könnte Natalie ihr eine Therapie verordnen, die ihre Genesung ein wenig beschleunigte. Gleichzeitig war sie sich wie jeder im Saal bewusst, dass dieser Vorwärtssprung sie geradewegs zum kniffligsten aller Probleme führte: Nach seiner Fertigstellung ermöglichte Mappa Mundi es ihnen, das Bewusstsein anderer Menschen zu ändern. Wie sie auf Judes Stirn geschrieben hatte, könnte sie dann Nervenverbindungen in einem Maße umgruppieren, dass es auf eine direkte Neuschöpfung – und

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