Mara und der Feuerbringer
Seherin! Nutze dein Talent und sieh dort, wo es was zu sehen gibt!«, sagte Loki geheimnisvoll und Mara folgte seinem Blick, der direkt auf die Hand mit der Schale geheftet war.
Und tatsächlich: Als sie jetzt sehr genau hinsah, konnte sie nicht mehr als einen zarten Schatten ihres Haargummis und der zwei Spangen erkennen. Sie waren immer noch genau dort, wo Mara sie befestigt hatte, aber seltsamerweise kaum mehr zu sehen!
Ich hatte recht, grinste Mara in sich hinein. Dabei griff sie in ihre Hosentasche und zog tatsächlich ebenfalls zwei Haarspangen hervor. Natürlich waren das nicht etwa zwei weitere Haarspangen, sondern haargenau dieselben! Die Spangen befanden sich offenbar an zwei Orten gleichzeitig. Und je mehr sie hier in der Höhle verschwanden, desto deutlicher erschienen sie wieder in Maras Hand.
Sie blickte zu der Stelle, an der die Deckenplatte aus ihrem Klassenzimmer zerplatzt war, und konnte auch die Gipsscherben dort nur noch schemenhaft erkennen.
»Was hat das zu bedeuten, kleine
Völva?
Nimmt man mir selbst diese kleine Hilfe, um mich weiter bis in alle Ewigkeit zu strafen?«, fragte Loki. Mara schüttelte den Kopf. »Also, für mich sieht das einfach nur so aus, als kehrten alle Dinge dorthin zurück, wo sie hingehören.«
Da fiel ihr noch etwas auf: Die Haarspangen an der Holzschale hatte sie aufbiegen müssen, damit sie über den dicken Rand passten – aber die Spangen in ihrer Hand waren nicht verbogen!
Das bedeutete also, dass die Dinge nicht nur an ihren Platz zurückkehrten, sondern auch in ihren ursprünglichen Zustand! Mara hätte am liebsten laut gelacht, als sie sich in der Höhle umsah und die Augen zusammenkniff.
Loki betrachtete sie mit einer Mischung aus Interesse und Belustigung: »Darf der Halbgott fragen, was die kleine Seherin noch sucht außer Kalkstein?«
»Moment bitte«, sagte Mara abwesend, als sie den Raum abschritt und schließlich wieder an Lokis Seite angekommen war. Sie machte einen Schritt zurück und endlich sah sie, wonach sie gesuchthatte: Direkt vor ihr war ein Flimmern in der Luft zu erkennen. Und wenn man die Augen ein wenig schloss und sich so das Flimmern zu einem Umriss zusammenfügte, gab es keinen Zweifel mehr!
Da erkannte auch Loki, was da neben ihm langsam erschien, und Mara hatte noch nie solch einen Ausdruck strahlendster Freude gesehen:
Sigyn
.
Mara fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Oder überhaupt noch nie! Es war einfach ein tolles Gefühl, dass alles plötzlich einen Sinn ergab. Sie seufzte zufrieden auf, während Loki nur noch Augen für seine Frau hatte, die vor ihm immer sichtbarer wurde.
Mara war nun klar, dass Loges magische Fesseln die arme Sigyn in seinem Reich festgehalten hatten, und nur darum hatte der Feuerbringer wohl auch dem Zweikampf zugestimmt: Hätte er triumphiert, wäre Sigyn auch ohne Fesseln an ihn gebunden gewesen! Von der Kette befreit, kehrte sie jedoch zurück an ihren Platz in der Mythologie: an die Seite von Loki.
Zu Loki gewandt sagte sie: »Entschuldigung, Herr Loki? Ich würde Sie nur um eine Sache bitten wollen.«
»Sprich, kleine
Völva
, aber verlange nicht, dass ich dich ansehe, denn mein Blick muss zu meinem Weib gerichtet bleiben, weil mir sonst das Herz zerspränge«, antwortete Loki überraschend leise, und doch in der ihm eigenen, pathetischen Art.
»Klar, kein Problem«, sprach Mara also zu Lokis Hinterkopf. »Sie haben mir doch beim letzten Mal gesagt, dass Sie niemandem danken können …«
Loki nickte nur, aber er schwieg.
»Und ich glaube, dass Sie mir darum stattdessen etwas … geschenkt haben, bevor ich gegangen bin. Hab ich recht?«
Wieder nickte Loki, aber Mara bemerkte, dass er grinste.
»Als Sie meine Hand gehalten haben, gaben Sie mir etwas ab von Ihrer magischen Götter-, oder äh, Halbgötter-Kraft, die ich dann solange benutzen konnte, bis sie irgendwann aufgebraucht war, richtig?«
Wieder nickte Loki, aber diesmal antwortete er: »Nun, ich hoffe doch, dass du damit keinen Unfug angestellt hast, kleine
Völva
.« Aber Mara hörte an seinem schelmischen Unterton, dass er wohl auch am Gegenteil seinen Spaß gehabt hätte.
»Na ja, wie man’s nimmt«, seufzte Mara. »Es wäre echt besser gewesen, wenn Sie es mir vorher gesagt hätten.«
»Oh, das wäre ja wohl einem Dank gefährlich nahe gekommen. Nein, nein, der Loki hat schon so viele seiner wunderbar schrecklichen Eigenschaften verloren, für die er bekannt, geliebt und gefürchtet war – da wird er nicht auch
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