Marais-Fieber
exzentrisch und ziemlich verdreht. Ihre Tochter schien
sich ein wenig zu schämen, ohne es sich einzugestehen.
„Vielleicht kommen Sie mit,
Monsieur Burma?“
„Bravo, Madame.“
„Warum ,Bravo’?“
„Mein Name kam Ihnen soeben
spontan über die Lippen.“
„Klar... Ich habe das Gefühl,
ich kenne nur diesen einen Namen. Komisch, nicht wahr? Vielleicht hat Odette
mir doch von Ihnen erzählt, obwohl...das macht sie gewöhnlich nicht...“
Ich sagte nichts dazu.
„...Also, kommen Sie, Monsieur,
ich zeige Ihnen meine kleine Fabrik.“
War fast ein Befehl.
„Ich geh nach Hause“, sagte
Odette.
„Gut“, pflichtete die Mutter
ihr eilig bei. „Sag Maria, sie soll einen kleinen Aperitif vorbereiten. Oder
mach es selbst. Die Ärmste ist schon so verkalkt, daß sie das
Desinfektionsmittel mit dem Aperitif verwechselt... Sie werden uns doch die
Freude machen und ein Gläschen mit uns trinken, Monsieur?“
„Ich möchte nicht stören...“
„Ach, Sie stören doch nicht.
Ich hab das Gefühl, ich kenne Sie schon seit einer Ewigkeit.“
Nachdenklich sah sie ihrer Tochter hinterher. Als Odette um die Ecke gebogen war,
hob Madame noch einmal seufzend die Schultern. Dann redete sie wieder auf mich
ein:
„Haben Sie den Gießern schon
mal bei der Arbeit zugesehen?“
Die Augen in ihrem
„hocherfreuten Gesicht“ waren einen Ton dunkler geworden und schienen mich
unter die Lupe zu nehmen. Ich meinte auch einen Anflug von Verstimmung in ihnen
zu erkennen.
„Nein. Dazu hatte ich bis jetzt
noch keine Gelegenheit.“
„Sie werden sehen, es ist sehr
interessant.“
Das bezweifelte ich. Trotzdem
folgte ich ihr. Hier im Marais gibt es an jeder Ecke eine Gießerei. So eine
Besichtigung gehört wohl zu dem Test, dem sich ein Neuling im Arrondissement
unterziehen muß. Ich hoffte nur, Madame Jacquier würde es sich nicht in den
Kopf setzen, mir die weiteren Sehenswürdigkeiten des Viertels zu zeigen:
historische Stadthäuser, Conservatoire des Arts et Métiers, Staatarchiv, die
Tour du Temple — Louis XVII mit seinen legitimen Nachkommen und seinen Kindern
der Liebe... A propos Staatsarchiv: Besser, ich zeigte mich Madame Jacquier
gegenüber von der liebenswürdigsten Seite, so anstrengend sie auch war.
Schließlich wollte ich von ihr Informationen über Maurice Badoux. Aber offen
gesagt, ich fragte mich allmählich, ob ich mit ihr nicht meine Zeit vergeudete.
Die Gießerei befand sich hinten
im Hof. Schon in dem Gang legte sich einem der Geruch von schmelzendem Kupfer
auf die Brust. Durch die offene Tür sah man kräftige Gestalten vor einem
hellerleuchteten, glutroten Hintergrund mit blauvioletten und dunkelroten
Streifen. Dazu ein ständiges Knistern.
Einer von den drei Gießern hob
den Kopf. Als er seine Chefin erkannte, vertiefte er sich wieder in seine
Arbeit. Die beiden Kollegen gossen das flüssige Metall aus einem Schmelztiegel
in einen schrägstehenden Behälter in Formen, die mit großen Flügelschrauben
befestigt waren. Der erste Arbeiter lenkte den Metallfluß. Seine Augen wurden
von einer dunklen Schweißerbrille gegen die Helligkeit geschützt. Brodelnd,
zischend und dampfend drang das teuflische Gebräu in die Gußformen.
Durch die Umgebung wirkten die
drei Männer wie Phantasiegestalten. Sie trugen dicke Lederschürzen,
Asbesthandschuhe und Stiefel, in die sie ihre Hosen gestopft hatten. In diesem
Aufzug hätten sie sich draußen nicht zeigen dürfen. Jeder hätte sie für
Marsmenschen gehalten. Aber ihnen war sicher nicht kalt, zumal in einer Ecke
neben einem riesigen Kokshaufen der Ofen unter dem Rauchabzug rot glühte. Mir
stand schon der Schweiß auf der Stirn, perlte in die Augen, verschleierte mir
den Blick oder lief salzig schmeckend in meine Mundwinkel. Allerdings stand ich
auch nah am Geschehen. Wo ich doch schon mal hier war, wollte ich mir das auch
genauer ansehen. Reisen bildet. Meine Fremdenführerin war vorsichtiger, und sie
kannte das ja auch schon. Sie hielt sich in angemessener Entfernung, vielleicht
auch wegen ihres Makeup. Bei diesem Gedanken mußte ich lachen.
„Kommen Sie, ich zeig Ihnen den
Pinguin“, sagte sie und schob mich in einen niedrigen Nebenraum. An der Wand
standen Holzkisten, auf denen verzeichnet war, welche Produkte sie enthielten.
Brauner Staub lag auf Tischen, Bänken, einem wackligen Stuhl und einem
wackligen Hocker. Auf einem Regal, zwischen einer Literflasche Wein und verschiedenen
Werkzeugen, stand die Büste von Beethoven. Hinter seiner
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