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Marais-Fieber

Marais-Fieber

Titel: Marais-Fieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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gewaltigen Stirn
fragte er sich wohl, was er hier verloren hatte. Vielleicht dachte der berühmte
Komponist aber auch über das Auf und Ab des Lebens nach. Eine Schramme auf
seiner majestätischen Nase zeugte von einem Schlag ins Gesicht. Unter dem
ganzen Krimskrams schwamm auch die unvermeidliche Möwe
auf ihrer starren Welle. Findet man in jedem Kramladen. Den verbrecherischen
Künstler wird man wohl nie ermitteln können. Seitdem diese Figur den Leuten als
Geschenk angedreht wird, hat sie sich bis auf Kleinigkeiten nicht mehr
verändert. Entweder in der Luft oder auf der Welle, so schmückt sie die Salons
der Kleinbürger, die Wartezimmer der Zahnärzte oder, bei Leuten mit Geschmack,
auch die finstersten Winkel des Dachbodens.
    „Das ist der Pinguin“,
verkündete Madame Jacquier.
    Sie reichte mir eine
Modellfigur. Ich weiß nicht, ob das Material zerbrechlich war oder nicht.
Jedenfalls nahm ich ihr das Meisterwerk vorsichtig ab. Nur nicht kaputtmachen!
Wie Madame Jacquier schon gesagt hatte: man konnte es als Lampe nehmen. Auch
als Briefbeschwerer. Oder als ausgefallenen Flaschenöffner. Oder als
dekorativen Griff an der Klosettspülung. Die Verwendungsmöglichkeiten waren
praktisch unbegrenzt.
    „Hübsch, nicht wahr?“
    „Sehr hübsch“, nickte ich.
    Ich hatte das Lächeln des
Schöpfers vor Augen, wenn man ihm gegenüber die Namen Picasso oder Hans Arp
erwähnte. Geringschätzig, überlegen und — bemitleidenswert. Schnell gab ich den
Gegenstand — Kunstgegenstand nennt man das wohl — Madame Jacquier zurück. Ich
wischte mir den Schweiß ab. Mit einer Bewegung in Richtung Werkstatt fragte
ich:
    „Und die vervielfältigen das?“
    Ohne daß ich es wollte, bekam
das Wort „vervielfältigen“ einen bedauernden Unterton.
    „Noch nicht“, sagte sie und
stellte den Pinguin wieder an seinen Platz zurück. „Sie haben erst die Gußform
hergestellt.“
    Sie zeigte auf eine Werkbank.
Da standen sie, hohl und häßlich.
    „Im Moment gießen sie den
üblichen Kram.“
    „Ach ja?“
    „Kommen Sie.“
    Wir gingen wieder zu den
Gießern. Sie waren beim nächsten Arbeitsgang angelangt. Schweigend zerschlugen
zwei von ihnen mit einem kleinen Hammer die Gußformen. Die gegossenen
Gegenstände fielen auf den Boden. Es roch muffig nach warmem Staub. Der dritte
Arbeiter schaufelte Kupferstücke aus einem Kübel in einen Schmelztiegel, der
auf dem glühenden Herdfeuer stand. Ich sah die verschiedensten Stücke, von
Aschenbechern bis Gardinenstangen, Ringen, Fassungen von Birnen usw. Das
Herdfeuer wurde von einem elektrischen Ventilator in Gang gehalten. Sein
aufdringliches Surren übertönte jedes andere Geräusch.
    „Wann fangen Sie mit dem
Pinguin an?“ schrie Madame Jacquier dem Arbeiter mit der dunklen Brille zu. Der
hatte die Brille bis unter den Schirm seiner Mütze geschoben.
    „Morgen, M’ame“, antwortete er
und fuhr fort, die gegossenen Gegenstände aus den Gußformen zu hauen. „Gleich
werden die Formen getrocknet.“
    Er zeigte auf eine Konstruktion
aus Ziegelsteinen neben dem brennenden Ofen. Der Schmelztiegel auf dem Koksofen
kam in Bewegung. Der Deckel hob sich, und etwas Kupfer floß knisternd in die
Lohe.
    „Los, Jules!“ rief der Arbeiter
mit der dunklen Brille, wohl der Vorarbeiter.
    Jules packte den Deckel des
Schmelztiegels mit einer langen Zange. Dann versuchte er, mit einer Art
Riesenlöffel die brodelnde Flüssigkeit abzuschöpfen. Wie bei einem ganz
gewöhnlichen Pot-au-feu.
    „Ganz schön heiß, was?“ sagte
ich zu dem Mann. Wollte schließlich nicht unhöflich wirken.
    „1700 Grad“, antwortete er,
schob den Deckel an seinen Platz zurück und legte Koks nach.
    „Hübsche Temperatur.“
    „Kann man wohl sagen, M’sieur.
Sollte man nicht die Finger reinstecken.“
    „Ja, da würden Frostbeulen
verdammt schnell heilen.“
    „Kommen Sie, Monsieur...äh...
Burma?“ rief mir Madame Jacquier vom anderen Ende der Werkstatt zu.
    Zum Dank, daß ich nicht noch
einmal meinen Namen sagen mußte, lief ich sofort zu ihr. Wir gingen über
rutschigen Sand in einen Nebenraum, der genauso staubig war wie alles andere.
Auch hier der beißende Geruch von schmelzendem Kupfer. Auf einem Tisch, weit
weg von Abfall und Schlacke, sah ich Riesenmengen von allem, was so hergestellt
wird: Medaillons, Schlüsselringe, kunstvoll verzierte Buffetschlösser und
Schubladengriffe. Dazu einige Dinge, die vielleicht als Kühlerverschluß dienen
konnten oder deren Verwendungszweck nicht genau klar war: ein

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