Marco Polo der Besessene 2
Khan ist unterwegs zur Halle der Gerechtigkeit, um die Sitzung des cheng zu eröffnen. Es haben sich viele Streitfälle angesammelt, die seiner Entscheidung harren. In solchen Dingen ist er sehr gewissenhaft und würde sogar die Entgegennahme des Waffenstreckens der Sung deshalb verschieben. Und wenn Ihr ihn nicht vor dem cheng erwischt, ist er dort beschäftigt und verhandelt hinterher mit der Sung-Kaiserin. Es kann Tage dauern, bis Ihr ihn wieder zu fassen bekommt, und in der Zeit könnte Achmad mit den Vorbereitungen für Eure Vernichtung bereits weit gediehen sein. Geht rasch!«
»In dem Augenblick, da ich das tue«, sagte ich, »lege ich nicht nur Achmads Schicksal in Eure Hand, Meister Chao, sondern unwiderruflich auch meines.«
»Und ich das meine in Eure, Polo. Geht!«
Ich ging, allerdings erst, nachdem ich nochmals in meine Gemächer gestürmt war, um andere Dinge zusammenzuraffen, die ich für den Khan hatte. Und erwischte ihn, kurz bevor er und die weniger hochgestellten Richter und die Zunge auf dem Podest in der Cheng-Halle Platz nehmen wollten. Er winkte mich freundschaftlich an das Podest heran, und als ich ihm die Sachen übergab, die ich mitgebracht hatte, sagte er: »Mit der Rückgabe dieser Dinge war es nicht eilig, Marco.«
»Ich hatte sie bereits länger behalten, als ich hätte tun sollen, Sire. Hier ist die elfenbeinerne pai-tzu-Plakette sowie Euer Ermächtigungsschreiben auf dem gelben Papier, und ein Papier, das der Minister Pao bei sich trug, als er gefangengenommen wurde, und noch eine Liste von mir mit den Namen sämtlicher Waffenmeister, welche die huo-yao-Kugeln so trefflich untergebracht und gezündet haben. Da ich ihre Namen mit lateinischen Buchstaben niedergeschrieben habe, Sire, lese ich sie Euch vielleicht vor. Hoffentlich spreche ich sie richtig aus, damit Ihr sie versteht, denn Ihr werdet Männer von so großen Verdiensten gewiß gebührend belohnen wollen…«
»Lest, lest!« sagte er nachsichtig.
Das tat ich, während er die Plakette und den Brief, den er mir mitgegeben hatte, müßig neben sich legte; dann warf er einen Blick auf das von Meister Chao gefälschte Papier. Als er sah, daß es auf han geschrieben war, faltete er es auseinander und reichte es der viele Sprachen mächtigen Zunge und hörte mir weiterhin zu. Ich hatte damit zu tun, meine eigenen, nicht besonders deutlich hingekritzelten Buchstaben zu entziffern, und las laut vor: »Ein Mann namens Gegen vom Stamme der Kurai… ein Mann namens Jassak von den Merkit… ein Mann namens Berdibeg, gleichfalls von den Merkit…«
Plötzlich sprang die Zunge erregt auf und stieß trotz der Beherrschung so vieler Sprachen einen Schrei aus, der völlig unverständlich war.
»Vakh!« kam es vom Khakhan. »Was habt Ihr, Mann?«
»Sire!« Die Zunge rang aufgeregt nach Atem. »Dies Papier… eine Sache von allerhöchster Bedeutung! Dem muß Vorrang vor allem anderen eingeräumt werden! Dies Schreiben, das jener Mann dort drüben gebracht hat.«
»Marco?« Kubilai wandte sich wieder mir zu. »Ihr habt gesagt, es sei dem verstorbenen Minister Pao abgenommen worden?« Ich sagte, ja, das stimme. Daraufhin wandte er sich wieder der Zunge zu. »Nun?«
»Vielleicht würdet Ihr es für angebracht halten, Sire«, sagte die Zunge und blickte bedeutsam mich an, dann die anderen Richter und die Wachen, »die Halle zu räumen, ehe ich Euch den Inhalt zur Kenntnis bringe.«
»Bringt ihn vor«, sagte der Khan knurrend, »danach werde ich entscheiden, ob die Halle geräumt werden soll.«
»Wie Ihr befehlt, Sire. Nun, ich könnte Euch langs am und Wort für Wort den Inhalt dolmetschen. Doch genügt es vorläufig zu sagen, daß es sich um einen Brief handelt, der mit dem yin von Pao Nei-ho unterfertigt wurde. Das Schreiben legt den Gedanken nahe, nein, es läßt sich ihm entnehmen, nein, es geht ganz unzweideutig daraus hervor, daß eine furchtbare Verschwörung besteht zwischen Eurem Vetter, dem Ilkhan Kaidu und - und einem Eurer vertrautesten Minister.«
»So?« sagte Kubilai frostig. »Dann halte ich es für das beste, daß niemand diese Halle verläßt. Fahrt fort, Zunge!«
»Kurz gesagt, Sire, scheint der Minister Pao, von dem wir alle wissen, daß er in Wahrheit ein Yi war, gehofft zu haben, die vollständige Zerstörung seiner Heimat Yun-nan abwenden zu können. Offenbar hat Pao den Ilkhan Kaidu bewogen -oder vielleicht bestochen; denn es wird Geld erwähnt -, nach Süden zu marschieren und mit seinem Heer Eure Nachhut
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