Marco Polo der Besessene 2
welchem Volk, welcher Religion, welchem Stamm oder welcher Sprache sie angehörten -alle Inder unterwarfen sich rückgratlos einer von den Brahmanen aufgezwungenen Gesellschaftsordnung, dem jati-Wesen, die das Volk in vier streng voneinander getrennte Klassen aufteilte; was nicht hineinpaßte, wurde rücksichtslos ausgeschieden. Da das jati-Wesen irgendwann in der Vergangenheit einmal von irgendwelchen brahmanischen Priestern ersonnen worden war, stellten ihre eigenen Nachkommen selbstverständlich die höchste Klasse dar, die der Brahmanen. Danach kamen die Abkömmlinge von längst verblichenen Kriegern -die schon sehr, sehr lange tot sein mußten, wie ich annahm; denn ich sah nicht einen einzigen, den ich mir auch nur entfernt als Krieger hätte vorstellen können -, danach die Abkommen irgendwelcher Kaufleute und Händler aus längst vergangener Zeit und am Schluß die Nachfahren irgendwelcher bescheidener Handwerker aus längst vergessener Zeit. An sich hätten diese den untersten Rang eingenommen, doch gab es ja noch die Ausgeschiedenen, die paraiyar oder »Unberührbaren«, die nicht behaupten konnten, zu irgendeiner jati zu gehören. Ein Mann oder eine Frau, die in eine bestimmte jati hineingeboren war, konnte keinerlei Umgang mit jemand pflegen, der in eine höhere yati hineingeboren war, und wollte selbstverständlich auch keinen mit jemand unter ihm Stehenden pflegen. Ehen, Beziehungen und Geschäfte wurden nur zwischen Angehörigen ein und derselben jati geschlossen; auf diese Weise wurden die Klassen ewig fortgesetzt, und jemand konnte genausowenig in eine höhere aufsteigen wie in die Wolken am Himmel. Die paraiyar wagten es nicht einmal, ihren besudelnden Schatten auf jemand fallen zu lassen, der einer jati angehörte.
Mit Ausnahme eines der Klasse der Brahmanen angehörigen Hindu gab es in Indien wohl keinen einzigen Menschen, der froh war über die jati, in die er hineingeboren worden war. Jeder Angehörige einer niederen jati wollte mir unbedingt erzählen, daß seine Vorfahren irgendwann in ferner Vergangenheit einer weit edleren Klasse angehört haben und dann durch den bösen Einfluß, irgendwelche Machenschaften oder die Zauberei eines Feindes erniedrigt worden sei. Gleichwohl sonnten sich alle in dem Glück, einer höheren jati anzugehören als jemand anders und sei es auch nur als so ein verabscheuungswürdiger paraiyar. Selbst ein paraiyar konnte immer noch höhnisch auf einen paraiyar zeigen, dem es noch dreckiger ging als ihm und der unter ihm stand. Das Schlimmste am jati-Wesen war nicht, daß es existierte und seit alters her existiert hatte, sondern daß die Menschen, die sich in seinen Fallstricken verfangen hatten nicht nur Hindus, sondern jede Menschenseele in Indien -, tatenlos zusah, daß es weiterhin existierte. Jedes andere Volk, das auch nur einen Funken Mut und Vernunft und Selbstachtung besaß, hätte es längst abgeschafft oder wäre beim Versuch, es abzuschaffen, untergegangen. Die Hindus hatten das nie auch nur versucht, und ich sah keinerlei Anzeichen, die darauf hingedeutet hätten, daß sie es jemals versuchen würden.
Durchaus möglich, daß selbst so heruntergekommene Völker wie die Bho und die Mien in den Jahren, die inzwischen vergangen sind, ein wenig besser geworden sind und etwas halbwegs Anständiges aus sich und ihrem Land gemacht haben. Doch nach den Reiseberichten zu urteilen, die ich in den letzten Jahren aus Indien bekommen habe, hat sich dort nichts geändert. Bis auf den heutigen Tag braucht ein Hindu, wenn er das Gefühl hat, wirklich der letzte Dreck der Menschheit zu sein, sich nur umzublicken und nach einem anderen Hindu zu suchen, dem er sich überlegen fühlt, und schon geht es ihm wieder gut, denn das verschafft ihm Befriedigung.
Da es mir schlechterdings unmöglich gewesen wäre, jeden Menschen, den ich in Indien kennenlernte, nach seiner Volkszugehörigkeit, Religion, jati und Sprache einzuordnen jemand konnte ja gleichzeitig Chola, Jain und Brahmane sein und Tamil sprechen -, und da ja ohnehin die gesamte Bevölkerung unter der Fuchtel des hinduistischen jati-Wesens stand, waren sie in meinen Gedanken auch weiterhin ununterscheidbar alle Hindus, nannte ich sie Hindus und tue das auch heute noch. Und wenn die mäkelige Dame Tofaa darin eine ungehörige und abwertende Bezeichnung sah -ich tat das nicht, und es ist mir egal. Mir würden hundert Bezeichnungen einfallen, die zutreffender aber auch schlimmer wären.
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Die Cholamandal-Küste war
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