Marco Polo der Besessene 2
das trostloseste und am wenigsten einladende Ufer, dem ich mich je genähert habe. Die gesamte Strecke hinunter weiß man nie genau, wo das Meer aufhört und das Land beginnt, denn der ganze Küstensaum bestand aus Niederungen, die im Grunde nichts weiter waren als schilf- und binsenbewachsene, stinkende, von einer Unzahl träge sich aus dem fernen Inneren Indiens heranwälzender Flußläufe und Bäche zerrissener Moräste. Land und Wasser gingen so unmerklich ineinander über, daß Schiffe zwei bis drei li draußen in der Bucht auf Reede ankern mußten. Wir selbst warfen vor einem Kuddalore genannten Dorf Anker, wo außer uns bereits ein lebhaftes Durcheinander von Fischer- und Perltaucherbooten auf den Wogen dümpelte. Kleine dinghis verkehrten mit Mannschaftsangehörigen und Fracht beladen zwischen den Booten und dem hinter den Morästen weit im Inland gelegenen fast nicht zu erkennenden Dorf. Unser Kapitän lenkte unser qurqur geschickt zwischen den ankernden Booten hindurch, und Tofaa lehnte sich über die Reling und spähte hinab auf die Hindus an Bord der anderen Fahrzeuge. Gelegentlich rief sie laut Fragen hinunter.
»Von diesen«, berichtete sie mir schließlich, »ist keines das Perlentaucherboot, das in Akyab war.«
»Nun«, sagte der Kapitän, gleichfalls an mich gewendet, »die Cholamandal-Perlen-Küste erstreckt sich gut und gern dreihundert farsakhs von Norden nach Süden. Oder, wenn Euch das lieber ist, über zweitausend li. Ihr wollt mir doch hoffentlich nicht zumuten, diese ganze Strecke abzusegeln.«
»Nein«, sagte Tofaa. »Ich finde, Marco-wallah, wir sollten ins Landesinnere gehen und die nächstgelegene Chola-Hauptstadt aufsuchen. Das ist Kumbakonam. Da alle Perlen königliches Eigentum sind und letztlich an den Raja fallen, kann der uns vermutlich am ehesten sagen, wo wir die Taucher finden, die wir suchen.«
»Sehr wohl«, sagte ich, und dann an den Kapitän gewandt: »Wenn Ihr jetzt ein dinghi herbeiriefet, das uns an Land bringt, werden wir Euch hier verlassen. Vielen Dank für die sichere Überfahrt. Salaam aleikum.«
Während uns ein ausgemergelter kleiner schwarzer dinghi-Mann über das brackige Wasser der Bucht hinüberruderte und später durch den stinkenden Morast zum fernen Kuddalore stakte, fragte ich Tofaa: »Was ist ein Roja? Ein König, ein Wang oder was?«
»Ein König«, sagte sie. »Vor zwei-oder dreihundert Jahren herrschte der beste, grimmigste und weiseste König, den das Königreich Chola jemals hatte. Sein Name lautete König Rajaraja der Große. Aus Hochachtung vor ihm und in der Hoffnung, ihm gleich zu werden, haben die Herrscher von Chola
-und der meisten indischen Völker auch -diesen Namen zu ihrem Titel gemacht.«
Nun, eine solche Art Inbesitznahme ist ja nicht einmal bei uns im Abendland etwas Ungewöhnliches. Caesar war ursprünglich ein römischer Familienname, wurde dann jedoch Amtsbezeichnung und bleibt das in der Form ›Kaiser‹ weiterhin für die Herrscher des Heiligen Römischen Reiches und wird in der Form ›zar‹ von kleinen Herrschern vieler unbedeutender slawischer Völker weiterhin als solche benutzt. Allerdings sollte ich entdecken, daß die Hindumonarchen sich nicht damit zufriedengaben, sich nur den Namen des ehemaligen Rajas als Titel zuzulegen -das klang offenbar für sich allein genommen nicht hochtrabend genug -, sie mußten ihn noch erweitern und ausschmücken, damit er noch königlicher und noch majestätischer klang.
Tofaa fuhr fort: »Früher war dies Chola-Königreich gewaltig groß und geeint. Doch der letzte hohe Raja starb vor ein paar Jahren, und seither ist es in zahllose mandais auseinandergebrochen - das der Chola, der Chera, der Pandya -und deren weniger hochstehe nde Rajas streiten sich jetzt um den Besitz des ganzen Landes.«
»Sollen sie das von mir aus gern tun«, sagte ich brummig, als wir in Kuddalore an Land stiegen. Wir hätten genausogut am Irawadi-Fluß in ein Miendorf kommen können. Weiter brauche ich Kuddalore nicht zu beschreiben.
Auf dem Landesteg schnatterte und gestikulierte eine Gruppe von Männern, die im Kreis um einen großen wassertriefenden Gegenstand herumstanden, der auf den Bohlen lag. Als ich genauer hinblickte, erkannte ich, daß es sich augenscheinlich um die Beute irgendeines Fischers handelte. Es hatte den Kopf eines Fisches, oder zumindest stank es wie ein Fisch, obwohl ich es vielleicht ein Meerestier nennen sollte, denn es war größer als ich und ganz anders als alles, was ich bisher
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