Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
war meine Gabe nicht besonders beliebt.
»Wie hat die Presse davon Wind bekommen?«, fragte ich.
Mein Chef wurde immer nervöser. Es wäre ihm wohl lieber gewesen, wenn ich ihm keine Fragen gestellt, sondern beantwortet hätte.
»Durchgesickert, nehme ich an«, murmelte er unwillig.
»Nach dem, was ich im Fernsehen gesehen habe, werden die Medien ihn bald zu Gesicht bekommen wollen.«
»Deswegen bist du hier«, sagte er. Fraglos wollte er mich endlich hineingehen sehen.
»Ihr müsst die Kameras ausschalten, sonst gibt es Interferenzen.«
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. Er hatte nicht vor, die Verbindung zu diesem Raum zu verlieren.
»Kannst du dieses eine Mal nicht versuchen, deine Gabe vor laufenden Kameras einzusetzen?«
»Es wird nicht funktionieren«, erinnerte ich ihn. »Mit den elektromagnetischen Interferenzen kann ich Wahrheit und Lüge nicht unterscheiden. Das tatsächlich Geschehene und seine Vorstellung.«
Mein Chef rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. Das war ihm ganz und gar nicht recht. Ich stellte mir vor, welche Überwindung es ihn kosten würde, meine Bedingung an seine Vorgesetzten weiterzugeben. Sie würden nicht gerade erfreut sein, sich diese Begegnung einer anderen Art mit dem Fremdling entgehen lassen zu müssen.
»Na gut, wir schalten alles ab«, gab er schließlich nach. »Tu, was du zu tun hast, um an die Information zu kommen.«
Er wandte sich ab, und ich stand allein vor der Tür.
8
Die Portugiesin und der
pferdenärrische Bäcker
B evor ich den Türgriff in die Hand nahm und umdrehte, ließ ich mich langsam von meiner Gabe durchdringen. Es war nicht schmerzhaft, eher eine Mischung aus Befremdung und Vergnügen.
Ich habe euch noch nicht viel von der Gabe erzählt, aber wenn ich mich von ihr überkommen lasse, fühle ich mich mächtig.
Die Gabe lässt mich ahnen … Nein, dieses Wort gefällt mir eigentlich nicht. Sagen wir, sie »gibt« mir gleich zu Anfang die entsetzlichste und die schönste Erinnerung eines Menschen, dem ich fest in die Augen blicke.
Ich habe auf diese Weise schon grauenhafte Verbrechen gesehen, ausgelebtes Verlangen, unerträglichen Schmerz und Psychoterror, unmittelbar gefolgt von grenzenloser Liebe, ungebremster Leidenschaft und höchstem Glück.
Wenn ich also in jemanden hineinsehe, laufen in den ersten Momenten diese widersprüchlichen Emotionen wie ein Film vor mir ab, als hätte jemand einen Trailer über seine Gefühle zusammengestellt. Ich kann seine entscheidenden Erlebnisse sehen sowie zwölf weitere Episoden. Von Schreckensszenarien bis hin zum absoluten Glücksgefühl. Wie Zusatzzahlen in der Lotterie. Diese zusätzlichen Episoden erlebe ich nicht mehr als zweiminütige Trailer, sondern als vierzehn Sekunden lange Teaser.
Manchmal liegt der Schlüssel zu dem jeweiligen Menschen in diesen zwölf Episoden. Oft klaffen die ersten beiden Gefühlsextreme so auseinander, dass es mir schwerfällt, den Menschen zu verstehen. Es sind nicht die Extreme, die uns definieren.
Ich dachte an meine erste Zusammenarbeit mit der Polizei zurück. Mein Bäcker auf der Plaza Santa Ana hatte mir ein Baguette verkauft. Meine Gabe war an jenem Tag aktiviert, und plötzlich sah ich in allen Einzelheiten, wie er seine Frau umbrachte, und gleich darauf spürte ich seine Liebe zu Pferden. Reiten war seine große Leidenschaft. Seine enge Verbindung zu Tieren wurde überlappt von dem gewaltsamen Tod eines Menschen, den er verschuldet hatte.
Ich ging zur Polizei. Ich begreife immer noch nicht, warum der Kriminalinspektor mir glaubte. Es ist derselbe, den ich jetzt Chef nenne. Das ist Jahre her, wir haben uns äußerlich viel, im Grunde unseres Wesens aber kaum verändert.
Ich weiß noch, wie ich ihm erzählte, was ich beim Anblick des Bäckers empfunden hatte. Er griff zum Telefon und schickte unverzüglich eine Streife los, die den Leichnam der Bäckersfrau gerade noch fand, ehe er in den Ofen geschoben und zu Pferdefutter verarbeitet worden wäre.
Ich fühlte mich so nutzlos, als er es mir erzählte und mir die Bilder von der zerstückelten Leiche zeigte. Ich hatte das Leben dieser Frau nicht retten können. Sie war tot, weil meine Gabe mir immer nur Bilder von bereits Geschehenem zeigt. Niemals ließ sie mich die Zukunft sehen, keine geplanten, aber noch nicht ausgeführten Morde, keine düsteren Träume und Sehnsüchte. Ich sah nicht das, worauf jemand zustrebte, sondern nur das, was er schon getan hatte. Im Fall der Tänzerin meiner
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