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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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sind.
    Doch das soll nicht heißen, dass ich mit dem Malen aufgehört hätte. In meiner Freizeit widme ich mich ihm nach wie vor. Wenn auch nicht auf wirklichen Leinwänden, sondern in meiner Vorstellung. Und tatsächlich verfüge ich dafür auch über genügend Zeit. Meine Arbeit ist nicht besonders zeitintensiv, dafür ist sie zu ungewöhnlich.
    Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Gabe zufiel oder ob ich auf sie stieß.
    »Wir setzen auf dich, Marcos«, sagte mein Chef, kaum dass mein Fuß den Boden berührte. Dann drückte er mir so fest die Hand, dass er mir beinahe zwei Finger gebrochen hätte.
    Mein Chef, ein Belgier Mitte sechzig, war Olympiasieger im Bogenschießen. Ein einziges Mal hatte ich ihn schießen gesehen; sein Gesicht war dabei von einer tiefen Befriedigung erfüllt. Ich liebe den Ausdruck, den die Leidenschaft einem Gesicht verleiht.
    Meine Mutter war der Meinung, es wäre wesentlich besser um die Welt bestellt, wenn unser sexuelles Ich in unser normales Ich einfließen würde. Als ich fünfzehn war, erklärte sie mir, ich müsse begreifen, dass ich zwei Wesen in mir trage: mein sexuelles Ich und mein normales Ich.
    »Dein sexuelles Ich kennst du vielleicht noch nicht, Marcos«, sagte sie, als wir im Parkett des Tanztheaters von Essen auf den Beginn einer Generalprobe warteten. »Aber bald wirst du es spüren. Es wird punktuell immer wieder erscheinen, wenn du jemanden begehrst, wenn du mit jemandem schläfst oder manchmal auch in ganz unverhofften Momenten.
    Das sexuelle Ich ist ganz entscheidend im Leben, denn es aktiviert sich, wenn man an einen Ort kommt, wo man nie zuvor war. Du wirst merken, wie es die Fährte aufnimmt, dem nachspürt, wonach es sich sehnt, sich verliebt, entflammt, leidenschaftlich wird.
    Kaum besteigst du ein Flugzeug, wirst du sofort wissen, welche Menschen darin du begehrst, welche Menschen Liebe für dich oder deine Liebe für sie empfinden könnten und mit welchen du gern Sex haben würdest.
    Das ist allen Menschen angeboren, man muss erkennen, dass Begehren und Fühlen nichts Schlechtes ist. Es ist Teil deines sexuellen Ich. Dein normales Ich, dein formelles Ich, droht dein sexuelles Ich immer auszulöschen, es gefügig und gesellschaftsfähig zu machen. Aber wie sollen wir denn die anderen wirklich kennenlernen, Marcos, wenn wir nicht wissen, wie sie wirklich sind, wenn wir nicht ihr Stöhnen kennen, ihre sexuellen Vorlieben, den Ausdruck ihrer tiefsten Leidenschaft? Wie kann es sein, dass wir von alldem nichts wissen? Wir wären doch viel glücklicher, wenn unser sexuelles Ich unser Leben bestimmen und unser Gesicht das Glück der Leidenschaft ausstrahlen würde.«
    Die Generalprobe begann, und sie vergaß mich augenblicklich.
    Doch ich erinnere mich an jedes ihrer Worte. Ich habe es nie gewagt, irgendetwas von dem anzuwenden, was sie sagte, aber ich weiß, dass sie weder von Orgien sprach noch meinte, man solle immer nur das tun, wonach einen gerade verlangte.
    Sie war der Überzeugung, man müsse das Glück, das man im Schlafzimmer empfindet, ins Büro mitnehmen, wenn man an einem traurigen Wintertag die Straße entlanggeht oder auf den Bus wartet.
    Ich glaube, als mein Chef den Bogen spannte, kam sein sexuelles Ich zum Vorschein. Sein Atem hörte sich an wie ein kaum unterdrücktes Stöhnen. Und ein Strahlen ging von ihm aus, wie ich es noch nie an ihm erlebt hatte. Damals sagte ich mir, dass meine Mutter recht hatte, und ich verstand sie ein wenig besser.
    »Ich werde tun, was ich kann«, antwortete ich meinem Chef, als wir zu den Büros gingen. Vielleicht wäre das auch eine gute Antwort darauf gewesen, was meine Mutter mir in Essen gesagt hatte. Doch das war unbeantwortet geblieben. Eines der vielen Gespräche mit meiner Mutter, die nie zu einem Abschluss kamen. Sie hielt nichts davon, Ansprachen, Gespräche oder Vorführungen zu beenden. Sie sagte, Schlusspunkte seien dazu da, den Menschen das Leben zu erleichtern. Pünktchen und Strichpunkte machten sie dafür intelligenter.
    Wie sehr ich sie vermisste; ihr Verlust verursachte einen Schmerz, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich konnte nicht. Die einsame Träne, die mir auf der Terrasse entschlüpft war, konnte man nicht Weinen nennen. Für ein richtiges Weinen müssen es mindestens zwei oder drei Tränen sein, eine allein ist mitleiderregend.
    Wir gingen ins Untergeschoss. Logisch, dass der Fremdling dort unten war. Die Gesichter all derer, denen wir

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