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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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begegneten, blickten mich erwartungsvoll an. Alle wussten um meine Gabe und was ich damit erreichen konnte.
    Meine Gabe … Sie ist schwierig zu erklären. Und erst recht, wie ich lernte, sie anzuwenden. Auch wie ich dazu kam, hier zu arbeiten, ist nicht gerade leicht in Worte zu fassen.
    Aber ich will es euch erzählen. Es gibt Eigenschaften, manchmal Kleinigkeiten, die untrennbar mit uns verbunden sind, uns zu dem machen, was wir sind. Und meine Gabe war etwas, was mich definierte.
    Ich möchte vorausschicken, dass ich sie selten anwandte. Ich griff ungern im normalen Leben auf sie zurück, weshalb ich sie so gut wie immer deaktiviert hatte. So fühlte ich mich lebendiger. Wäre die Gabe aktiviert gewesen, als ich das Mädchen vor dem Teatro Español erblickte, hätte ich womöglich nicht das Gleiche für sie empfunden. Denn was ich für sie fühlte, war etwas Ursprüngliches, Authentisches. Ich habe mich in ein Warten verliebt. Ich dachte wieder an sie, wahrscheinlich saß sie noch im Theater, erfreute sich an dem Stück über den Handlungsreisenden, lächelte, klatschte.
    Wie konnte ich sie so sehr vermissen, ohne sie auch nur zu kennen? Der Mensch ist doch ein rätselhaftes, unbegreifliches Wesen. Die Erinnerung an sie rief ein ganz besonderes Gefühl in mir hervor.
    Auf meine Gabe stieß ich zum ersten Mal ebenfalls in einem Theater. Ich war damals siebzehn. Angeblich das Alter, in dem Gaben in Erscheinung treten. An jenem Abend lernte ich in den Garderoben eine neue Tänzerin kennen. Meine Mutter setzte große Stücke auf sie, sie sollte ihrer Choreographie einen neuen Stil verleihen.
    Ich begegnete also dieser Tänzerin in den Garderobenräumen in Köln, blickte sie an, und plötzlich wusste ich alles über ihr Leben. Ich sah ihre Träume, ihre Sehnsüchte, ihre Lügen. Alles, was sie je gefühlt oder aufgewühlt hatte, offenbarte sich mir so klar, als blickte ich ihr mitten ins Herz. Ich nahm den Schmerz wahr, den sie beim Tod ihres kleinen Bruders empfunden hatte. Es war ein übermächtiger Schmerz, weil er, wie ich erkannte, dem Schuldgefühl entsprang, ihren Bruder allein zu Hause gelassen zu haben. Ich fühlte auch die Traurigkeit, die sie jedes Mal überkam, wenn sie mit einem Unbekannten ins Bett ging. Sie mochte keinen Sex, mit fünfzehn Jahren war sie vergewaltigt worden, seitdem verspürte sie keinerlei Lust, es war nur etwas, was sie glaubte, tun zu müssen.
    Über ein Dutzend dieser tiefsitzenden Emotionen erreichten mich. Es war, als würde ich ohne jeden Vorsatz in ihrem Leben schürfen. Ihre Gefühle legten sich auf mein Gesicht, bis ich nicht mehr konnte und mich von ihr entfernen musste. Ich wusste nicht, was geschehen war, doch ich hatte ihr Leben gesehen, einen Blick auf ihre Schwächen geworfen, erkannt, was sie liebte und worauf sie stolz war. Und dabei hatte ich auch ihren Hass auf meine Mutter entdeckt. Einen so schrecklichen Hass, dass er womöglich tödlich sein könnte, wie ich dachte. Doch ich erzählte meiner Mutter nichts davon, weil ich einfach nicht glaubte, dass irgendetwas Wahres an alldem war.
    Zwei Monate später bohrte diese Tänzerin meiner Mutter eine Schere in die Herzgegend. Es war nicht schlimm, aber zwei Zentimeter weiter links, und meine Mutter wäre tot gewesen.
    Auf der Intensivstation erzählte ich meiner Mutter, was ich gefühlt hatte, als ich ihre Angreiferin kennengelernt hatte. Sie sah mich an, nahm sich einen Augenblick Zeit und sagte dann zu mir:
    »Das ist eine Gabe, Marcos. Lerne, sie zu gebrauchen, aber lass dich nie von ihr benutzen.«
    Wir sprachen nie wieder über diese Gabe. Ihr Herz erholte sich. Das Ganze kümmerte sie nicht besonders, nach wie vor hegte sie größte Verachtung für dieses ihrer Ansicht nach überschätzte Organ. Ich glaube, ihre entscheidenden Emotionen wurden tatsächlich von ihrer Speiseröhre kanalisiert.
    »Willst du allein zu dem Fremdling hineingehen?«, fragte mein Chef.
    Ich nickte.
    »Wie lange habt ihr ihn schon hier?«, fragte ich.
    »Seit drei Monaten«, antwortete er.
    »Seit drei Monaten ist er hier eingesperrt?«, rief ich empört aus.
    »Wir haben alle möglichen Methoden ausprobiert, aber wir konnten nicht in Erfahrung bringen, ob er ein Fremdling ist oder nicht. Mal sehen, was du herausbekommst.«
    Ich war ihre letzte Option. Vor mir waren fraglos schon Militärs, Psychologen, Ärzte und wahrscheinlich sogar Elitefolterer durch diese Tür getreten. Und sie mussten alle erfolglos gewesen sein, denn bei den Oberen

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