Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
Mutter sah ich den Hass, aber ich hätte niemals vermutet, dass aus diesem Hass ein Mordversuch entstehen könnte.
Ich ging zur Beisetzung der Bäckersfrau. Ich fühlte mich ganz schrecklich, beinahe wie ein Komplize des Mörders, weil ich in gewisser Weise sein Zeuge geworden war. Wenn auch mit Verspätung, hatte ich ihrem Tod beigewohnt wie ein versteinerter Gast. Es war kaum zu ertragen. Ich hatte das Ganze nicht live gesehen, trug die Sequenz jedoch in mir wie eine makabre Aufzeichnung.
Mein Chef kam auch zur Beisetzung. Er beobachtete mich schweigend. Danach lud er mich zu einem Kaffee ein, den wir mit Eiswürfeln tranken. Und in diesem gruseligen Friedhofscafé kam er gleich auf den Punkt.
»Könntest du dir vorstellen, mit mir zusammenzuarbeiten?«
»Mit der Polizei?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete er. »Allerdings würde ich es vorziehen, wenn du nur mit mir Kontakt hättest, um zu vermeiden …«
»Dass es dumme Witze gibt?«
Er suchte behutsam nach dem richtigen Wort. Das gefiel mir, meine Mutter hätte es in so einer Situation genauso gemacht.
»Missverständnisse«, sagte er schließlich.
Ich sagte ihm, ich müsse es mir überlegen.
Ich hatte die Gabe damals seit mehr als sechs Jahren, aber niemals war mir in den Sinn gekommen, sie könnte zu mehr nütze sein als festzustellen, wie merkwürdig die Menschen doch waren, wenn ich im gleichen Moment all ihre Bosheit und all das Gute in ihnen sah.
»Darf ich dich um etwas bitten?«, fragte er, als ich aufstand, ohne einen Schluck von meinem Kaffee getrunken zu haben.
Ich ahnte, worum er mich bitten wollte. Jeder, der von meiner Gabe hört, will sie an sich selbst ausprobieren, seine eigenen beiden Extreme und die zwölf Zusatzemotionen enthüllt bekommen.
»Sie wollen wissen, was Ihre Extreme sind?«, fragte ich ihn ohne Umschweife, um ihm die Sache zu erleichtern.
Er nickte und trank bewegt seinen Kaffee auf Eis aus. Ich aktivierte meine Gabe und sah ihn an.
»Sie haben einmal einen Verhafteten getötet, es geschah nicht vorsätzlich und auch nicht absichtlich«, sagte ich, als ich die Szene deutlich vor mir sah. »Nicht Sie haben dieses Unglück verursacht, sondern ein bärtiger Polizist um die fünfzig. Trotzdem fühlen Sie sich schuldig an diesem Todesfall; Sie können ihn nicht vergessen.«
Er wurde bleich. Ich nehme an, es ist nicht besonders angenehm, wenn ein Unbekannter in einem Friedhofscafé das größte Geheimnis aufdeckt, das man mit sich herumträgt.
»Sie haben eine Geliebte«, fuhr ich fort. »Sie ist Portugiesin. Sie ist Ihre große Freude, das andere Extrem. Jeden Freitagnachmittag treffen Sie sich in einem Haus am Fluss, wo sie wohnt. Sie fühlen sich jung, wenn Sie bei ihr sind. Die Stunden, die Sie mit ihr verbringen, sind Ihr größtes Glück.«
Er sagte nichts. Mir wurde bewusst, dass Freitag war und dass seine elegante Kleidung und das Rasierwasser, nach dem er roch, vermutlich keine Respektbezeigung für die Bäckersfrau waren, sondern der Portugiesin um die vierzig galten.
Er sagte nichts, und so stand ich auf und ging.
Draußen überlegte ich, ob ich sein Angebot annehmen sollte. Doch bei dem Blick auf die zahllosen Gräber ringsum sagte ich mir, dass ich für so etwas nicht geschaffen war.
Es dauerte zwei Jahre, bis ich schließlich doch auf seinen Vorschlag einging. Unterdessen waren wir gute Freunde geworden. Ich lernte die Portugiesin kennen und ging zu dem Grab des bärtigen Polizisten, der den Verhafteten umgebracht hatte. Es war der Vater meines Chefs. Mein Chef hatte nie den Mut aufgebracht, ihn anzuzeigen, weshalb es ihm wahrscheinlich Erleichterung verschaffte, mit mir darüber zu sprechen.
Warum ich eingewilligt habe, mit ihm zusammenzuarbeiten? Ich glaube, um meiner Gabe einen Sinn zu geben. Es war notwendig. Wir wünschen uns schließlich alle, dass unsere Handlungen irgendeinen Sinn bekommen.
Und als ich jetzt vor dieser Tür stand und kurz davor war, sie zu öffnen und dem berühmtesten Fremdling der Welt gegenüberzutreten, fühlte ich, dass meiner Gabe ihre wahre Bedeutung zuteilwurde.
Wenn es zutraf, was im Fernsehen über diesen Fremdling berichtet wurde, würde das Bild, das ich von ihm empfing, dazu beitragen, seine Geschichte zu erfahren, seine Herkunft und sogar die Absichten, mit denen er auf unseren Planeten gekommen war.
Das Gute und das Böse sind wie Kardinalpunkte in uns. Alle vierzehn Emotionen, die ich sehe, lassen sich zu einem Bild verbinden, wie beim Malen nach
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