Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)
bezeichnete.
»Erzähl«, sagte das Mädchen, als wir aus den kleinen Gassen in den ersten vierspurigen Boulevard abbogen. Mir war klar, dass sie damit alles meinte. Erzähl mir alles. Der Peruaner fuhr die Trennwand hoch, wofür ich ihm einen dankenden Blick zuwarf.
Auch ich empfand etwas Seltsames für sie. Ein Vertrauen, wie man es einer Unbekannten normalerweise nicht entgegenbringt, das manchmal aber eben einfach da ist, stärker sogar, als man es für Menschen hegt, die man seit über zwanzig Jahren kennt.
»Nicht dass Vertrauen etwas Schlechtes ist«, sagte meine Mutter immer, wenn jemand sie enttäuschte. »Vertrauen sollte einfach nicht existieren. Man wird nachlässig, und das führt zu Tiefschlägen in jeder Art von Beziehung.« Sie war der Meinung, man müsse sich das Vertrauen des anderen Tag für Tag neu verdienen. Vom anderen verlangen, dass er einen übertreffe, einen überrasche, und ihm selbst das Gleiche vorleben.
Ich habe sie nie in einer festen Beziehung erlebt. Sie hat nie auf die konventionelle Art mit einem Mann zusammengelebt. Wahrscheinlich hatte das eben mit ihrem Konzept von Vertrauen zu tun. Ich glaube, der Mensch, mit dem sie am meisten Zeit verbrachte, die meisten Zimmer teilte, die meisten Gespräche führte, war –ich. Und ich kann euch versichern, dass sie nie aufhörte, mich zu fordern und mir zu zeigen, wie ich sie zu fordern hatte.
Das Schlüsselerlebnis unseres gemeinsamen Lebens hatte ich in Boston, wo meine Mutter auch starb. Boston ist eine Stadt mit einem ganz eigenen unbezwingbaren Geist, die eigentlich eher nach Europa passen würde. Ich war dort mit fünfzehn, es war Sommer, und ich liebte es, auf einer Bank in einem der riesigen Parks voller Seen zu sitzen und wie Will Hunting in der Gelassenheit einer Stadt zu versinken, die dir nichts abverlangt, keinerlei Streben von dir erwartet. In dieser Stadt habe ich mich wirklich als ich selbst gefühlt, ganz ich selbst.
Und in dieser Stadt fühlte ich mich auch meiner Mutter am nächsten. Wie ich schon sagte, badete sie nach Premieren gern. Sie sagte, es befreie sie vom Geruch der ersten Aufführung, von der angestauten Anspannung und Leidenschaft. Seit ich zehn war, fiel es mir zu, ihr dieses Bad zu bereiten.
Sie hatte mir beigebracht, dass man ein Bad einlassen muss, wie man ein köstliches Mahl zubereitet. Beidem muss man sich liebevoll widmen, um das erwünschte Resultat zu erzielen. Sie sagte, viele Leute würden gleichzeitig kochen und irgendwelche anderen Sachen machen, was man ihren Gerichten anmerke. In Küchen und Bädern, sagte sie, müsse man voll und ganz da sein. Als sei die Wassertemperatur der Schlüssel für das Wohlgefühl, das Bad oder Essen hervorrufen.
Seit ich zehn Jahre alt war, saß ich deshalb still neben der Badewanne und beobachtete, wie sie sich langsam füllte. Erst sechs Minuten kaltes Wasser, dann drei Minuten sehr heißes Wasser. Das Badegel tat ich erst ganz zum Schluss hinein, es war der schönste Moment, denn wenn ich es richtig machte, konnte ich zusehen, wie der Schaum seine Kristalle bildete. Es unterschied sich nicht sehr vom Malen.
Ich war gern ihr Bademeister. Sie lag dann genau eine Stunde genüsslich im Wasser. Immer allein. Wenn sie herauskam, war sie ein neuer Mensch.
In Boston hatte ich ihr zum ersten Mal bei der Regie des Stückes assistiert, das sie dort aufführte. Als das Nachpremierenbad eingelassen war, lud sie mich deshalb ein, mit ihr hineinzusteigen. Jeder auf eine Seite. Ich zögerte. Es war wie in dem Wolkenkratzerhotel, als sie das Bett mit mir teilen wollte. Ich wusste, dass es ihre Art war, sich bei mir für die gute Arbeit zu bedanken, die ich ihrer Meinung nach wohl geleistet hatte. Aber für mich bedeutete es einfach nur, die Badewanne mit meiner Mutter zu teilen, und ich dachte, dass wahrscheinlich kaum ein anderer Halbwüchsiger in die Verlegenheit dieses mütterlichen Angebots kam.
Wie immer insistierte sie nicht, sondern stieg einfach schon einmal selbst hinein. Ich zögerte weiter, doch irgendetwas muss tatsächlich in der Bostoner Luft gelegen haben, was mich alle Vorurteile und Bedenken vergessen ließ, und so zog ich mich schließlich aus und legte mich ihr gegenüber in die Badewanne. Anfangs war ich ziemlich unentspannt, aber nach und nach konnte auch ich es genießen. Alle Anspannung, aller Probenstress glitt in dieses liebevoll eingelassene Wasser. Und ich merkte, wie der Körper meiner Mutter, den ich anfangs keinesfalls berühren wollte,
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