Margaret Mitchell
sie ohne ihn auskommen? Wie konnte sie sich
sonst frei bewegen? Er war grob und schmutzig, gelegentlich roch er auch
reichlich stark, aber er erfüllte seinen Zweck. Er fuhr sie zu den Mühlen und
wieder zurück und auf Kundenbesuche, und während sie sich unterhielt und
Weisungen gab, spuckte er und starrte in die Ferne. Wenn sie aus dem Wagen
stieg, stieg er hinterher und wich nicht von ihrer Seite. Hielt sie sich
zwischen rohen Arbeitern, Negern und Yankees auf, so stand er höchstens einen
Schritt von ihr entfernt.
In kurzer
Zeit gewöhnte sich Atlanta daran, Scarlett mit ihrer Leibwache zu sehen, und
alsbald begannen die anderen Damen sie um ihre Bewegungsfreiheit zu beneiden.
Seit der Lynchjustiz des Ku-Klux-Klan waren die Frauen so gut wie eingemauert,
nicht einmal in die Stadt gingen sie, um Besorgungen zu machen, wenn nicht
mindestens ein halbes Dutzend von ihnen sich zusammenfand. Von Natur gesellig,
wurden sie bald nervös, ließen ihren Stolz beiseite und baten Scarlett, ihnen
Archie auszulernen. Wenn sie ihn nicht brauchte, ließ sie sich herab, ihn den
anderen Damen zu überlassen.
Bald wurde
Archie in Atlanta eine unentbehrliche Einrichtung. Die Damen bewarben sich um
die Wette um seine freie Zeit. Selten verging ein Morgen, da nicht zur
Frühstücksstunde ein Kind oder ein schwarzer Dienstbote ein paar Zeilen
brachte, in denen stand: »Wenn Sie Archie heute nachmittag nicht brauchen, bitte
überlassen Sie ihn mir, ich möchte Blumen auf den Kirchhof bringen.« - »Ich muß
zur Putzmacherin.« - »Darf Archie Tante Nelly ein bißchen spazierenfahren?« -
»Ich muß einen Besuch in der Peterstraße machen, und Großpapa kann nicht
mitkommen, da er sich nicht wohl fühlt; könnte wohl Archie ...«
Archie
fuhr sie alle, die Mädchen, die Frauen, die Witwen, und allen bezeugte er
dieselbe unerbittliche Verachtung. Es war kein Zweifel, außer Melanie mochte er
die Frauen ebensowenig leiden wie die Neger und die Yankees. Zuerst nahmen die
Damen an seiner Grobheit Anstoß, dann gewöhnten sie sich daran, und da er sich,
abgesehen von regelmäßigen Tabaksaftexplosionen, ganz still verhielt, so wurde
er ihnen bald ebenso selbstverständlich wie die Pferde, die er fuhr, und sie
vergaßen, daß er überhaupt da war. Mrs. Merriwether berichtete sogar Mrs. Meade
in allen Einzelheiten über das Wochenbett ihrer Nichte, ehe sie sich überhaupt
bewußt wurde, daß Archie auf dem Bock saß.
Zu keiner
anderen Zeit wäre so etwas denkbar gewesen. Vor dem Krieg hätten die Damen ihn
nicht einmal in ihrer Küche geduldet Sie hätten ihm Essen durch die Hintertür
gereicht und ihn seiner Wege geschickt. Aber jetzt war seine beruhigende
Gegenwart ihnen willkommen. Dieser grobe, ungebildete, schmutzige Mensch stand
als Bollwerk zwischen den Damen und den Schrecknissen der Stadt. Er war weder
Freund noch Dienstbote, sondern eine bezahlte Leibwache zum Schutz der Frauen,
während ihre Männer tagsüber der Arbeit nachgingen oder abends vom Hause fort
waren.
Es kam
Scarlett so vor, als wäre Frank sehr oft abends von Hause fort, seitdem Archie
sie beschützte. Er sagte, er habe im Laden die Bilanz zu machen und es sei so
viel zu tun, daß er während der Arbeitsstunden wenig Zeit daran wenden könne.
Dann wieder hatte er kranke Freunde, an deren Bett er sitzen mußte, außerdem
kam die Organisation der Demokraten jeden Mittwochabend zusammen, um zu
beraten, wie man wieder in den Besitz des Stimmrechts gelangen könnte, und
Frank versäumte nie eine Sitzung. Scarlett meinte, die Vereinigung täte nicht
viel anderes, als darüber zu reden, daß General John B. Gordon jedem anderen
Heerführer außer General Lee überlegen sei, und außerdem den Krieg immer erneut
wieder durchzufechten. Jedenfalls bemerkte sie keinen Fortschritt, was die
Wiedererwerbung des Wahlrechts anging. Aber Frank hatte offenbar Freude an den
Sitzungen, denn an solchen Abenden blieb er endlos lange aus.
Auch
Ashley wachte bei kranken Freunden und nahm an den Sitzungen der Demokraten
teil, und in der Regel war er an denselben Abenden fort wie Frank. Dann
geleitete Archie Tante Pitty, Scarlett, Wade und die kleine Ella Lorena durch
den Hintergarten zu Melanie, und die beiden Familien verbrachten den Abend
gemeinsam. Die Damen nähten, während Archie in seiner ganzen Länge auf dem Sofa
im Salon lag und schnarchte, wobei sein grauer Bart bei jedem rasselnden
Atemzug emporwehte. Niemand hatte ihn aufgefordert, sich auf das Sofa
niederzulegen, und da es
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