Margaret Mitchell
der ausdruckslose, leere Blick des
Pokerspielers, der im Spiel nur mit einem Paar Zweien bluffen will.
»Archie,
machen Sie die Tür auf«, sagte sie ruhig.
Archie
steckte sich das Messer in den Stiefel, löste die Pistole am Hosenband,
humpelte zur Tür und riß sie auf. Pitty quiekte leise wie eine Maus, welche
spürt, daß die Falle zuschnappt, als sie in der Tür einen Yankeeoffizier stehen
sah, hinter dem sich eine ganze Abteilung Blauröcke herandrängte. Scarlett sah
mit einer gewissen Erleichterung, daß sie diesen Offizier kannte. Es war
Hauptmann Tom Jaffery, einer von Rhetts Freunden. Sie hatte ihm Holz zum Bau
eines Hauses verkauft und wußte, daß er ein Gentleman war. Vielleicht schleppte
er sie also nicht ins Gefängnis. Er erkannte sie auf der Stelle, nahm den Hut
ab und verbeugte sich etwas verlegen.
»Guten
Abend, Mrs. Kennedy. Welche von den Damen ist Mrs. Wilkes?«
»Ich bin
Mrs. Wilkes«, antwortete Melanie und stand auf. So klein sie war, strahlte sie
doch Würde aus. »Welchem Umstände verdanke ich Ihr Eindringen?«
Der Blick
des Hauptmanns durchforschte rasch das ganze Zimmer, ruhte einen Augenblick auf
jedem Gesicht und schweifte dann über Tisch und Hutständer, als suche er nach
Spuren männlicher Gegenwart.
»Ich möchte
Mr. Wilkes und Mr. Kennedy sprechen, wenn ich bitten darf.«
»Die sind nicht hier«, sagte
Melanie ruhig. »Ist das sicher?«
»Daß Sie
mir nicht Mrs. Wilkes' Worte anzweifeln«, sagte Archie mit gesträubtem Bart.
»Entschuldigen
Sie, Mrs. Wilkes, ich wollte nicht unhöflich sein. Wenn Sie mir Ihr Wort geben,
durchsuche ich das Haus nicht.«
»Sie haben
mein Wort. Aber suchen Sie nur, wenn Sie wollen. Die beiden Herren sind in der
Stadt auf einer Sitzung in Mr. Kennedys Laden.«
»Im Laden
sind sie nicht. Heute abend war auch keine Sitzung«, antwortete der Offizier
verdrossen. »Wir warten draußen, bis sie zurückkommen.«
Er
verbeugte sich kurz, ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Drinnen
vernahmen sie, gedämpft durch den Wind, den scharfen Befehl: »Das Haus
umstellen. Ein Mann an jedes Fenster und jede Tür.« Schwere Schritte erklangen.
Scarlett unterdrückte einen Schreckensschrei, als sie im Dunkeln bärtige
Gesichter zum Fenster hereinschauen sah. Melanie griff nach einem Buch, das auf
dem Tisch lag. Es war ein zerlesenes Exemplar von Victor Hugos >Les
Miserables<, einem Buch, für das die konföderierten Soldaten schwärmten. Sie
hatten es alle am Lagerfeuer gelesen und nannten es mit grimmigem Vergnügen:
>Lee's Miserables<. Sie schlug es aufs Geratewohl auf und begann mit
klarer, eintöniger Stimme vorzulesen.
»Nähen!«
kommandierte Archie in heiserem Flüsterton, und die drei Frauen, durch Melanies
kühle Stimme beruhigt, nahmen die Arbeit wieder auf und senkten die Köpfe.
Wie lange
Melanie unter den wachsamen Augen da drinnen vorlas, wußte Scarlett nie. Ihr
schienen es Stunden. Sie verstand kein Wort. Jetzt fing sie an, auch an Frank
zu denken. Daraus also erklärte sich seine scheinbare Ruhe heute abend. Er
hatte ihr versprochen, daß er mit dem Klan nichts zu tun haben wollte. Ach,
gerade ein Unheil dieser Art hatte sie immer gefürchtet. Nun war die Arbeit des
ganzen vergangenen Jahres umsonst. All ihre Kämpfe und Sorgen, all die Mühsal
im Regen und in der Kälte, alles war vergebens. Wer hätte es dem zaghaften
alten Frank zugetraut, daß er in das hitzköpfige Treiben des Klan verwickelt
wurde! Vielleicht war er in diesem Augenblick schon tot, und wenn er noch lebte
und die Yankees ihn erwischten, wurde er gehängt. Und Ashley ebenfalls!
Ihre
Fingernägel gruben sich in die Handflächen, bis blutrote Halbmonde darin zum
Vorschein kamen. Wie konnte Melly so ruhig weiter und immer weiter vorlesen,
wenn Ashley der Strick drohte, wenn er womöglich schon tot war! Aber etwas in
der kühlen, leisen Stimme, die da Jean Valjeans Schicksale vortrug, hielt sie
im Gleichgewicht und hinderte sie daran, aufzuspringen und zu schreien.
Ihre
Gedanken flogen zu jener Nacht zurück, da Tony Fontaine abgehetzt, erschöpft
und ohne einen Cent zu ihnen gekommen war. Hätte er damals nicht ihr Haus
erreicht und Geld und ein frisches Pferd bekommen, er hinge längst am Galgen.
Wenn Frank und Ashley in diesem Augenblick nicht schon tot waren, so waren sie
so schlimm daran wie Tony und noch schlimmer. Da das Haus von Soldaten
umzingelt war, konnten sie nicht herein, um Geld und Mäntel zu holen, ohne
abgefaßt zu werden. Wahrscheinlich hatte
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