Margos Spuren
»Es ist bestimmt Lacey. Genau! Und sobald Lacey weiß, dass du unterwegs bist, sagt sie Margo Bescheid, und sie holt dich am Flughafen ab. Los, Alter, ich fahre dich heim, damit du packen kannst, und dann fahre ich dich zum Flughafen, und das Ticket kaufst du mit der Notfall-Kreditkarte deiner Eltern, und wenn Margo mitkriegt, was für ein knallharter Kerl du bist, die Art Kerl, von der Jason Worthington nur träumen kann, dann haben wir alle drei eine superheiße Puppe für den Ball.«
Ich zweifelte nicht daran, dass in der nächsten Stunde ein Flug nach New York ging. Von Orlando gingen stündlich Flüge überallhin. Aber an allem anderen zweifelte ich. »Vielleicht kannst du Lacey mal anrufen …«, sagte ich.
»Die gibt es doch nicht zu!«, entgegnete Ben. »Erinnere dich an die ganzen Fehlinformationen, die sie gestreut hat – wahrscheinlich haben sie nur so getan, als hätten sie sich gestritten, damit du nicht dahinterkommst, dass Lacey der Maulwurf ist.«
»Ich weiß nicht«, sagte Radar. »Irgendwie passt das nicht zusammen.« Ich hörte nur halb zu. Den Blick auf den Pausenbildschirm gerichtet, dachte ich über Bens Theorie nach. Falls Margo und Lacey nur so taten, als würden sie sich streiten, hatte Lacey dann auch nur so getan, als hätte sie mit ihrem Freund Schluss gemacht? War ihre Sorge nur gespielt? Lacey hatte Dutzende von E-Mails aus New York bekommen, nachdem ihre Cousine die Steckbriefe in Plattenläden verteilt hatte – keins davon mit brauchbaren Informationen. Lacey war kein Maulwurf, und Bens Plan war idiotisch. Auch wenn mir die Idee gefiel – wir hatten nur noch zweieinhalb Wochen Schule, und nach New York zu gehen würde mich mindestens zwei Tage kosten. Ganz zu schweigen davon, dass meine Eltern mich umbringen würden, wenn ich mit ihrer Kreditkarte ein Flugticket kaufte. Je länger ich darüber nachdachte, desto dümmer war es. Andererseits, wenn ich sie morgen sehen könnte …
Nein. »Ich kann die Schule nicht schwänzen«, sagte ich. Ich drückte auf Fortsetzen. »Morgen haben wir eine Französischprüfung.«
»Ich muss schon sagen«, meinte Ben, »dein Sinn für Romantik ist für uns alle ein Vorbild.«
Wir spielten noch ein paar Minuten, dann ging ich zu Fuß durch den Jefferson Park nach Hause.
Meine Mutter hatte mir mal von einem durchgeknallten Jungen erzählt, der bei ihr in Therapie war. Bis er neun war, war er völlig normal gewesen, doch dann starb sein Vater. Natürlich gibt es jede Menge Neunjährige, deren Vater stirbt und die nicht deswegen verrückt werden, aber dieser Junge war anders, schätze ich.
Dieser Junge nahm einen Bleistift und einen Taschenkompass, und dann fing er an, mit dem Kompass als Schablone Kreise auf ein Blatt Papier zu malen, Kreise mit einem Durchmesser von exakt fünf Zentimetern. Und er zeichnete so lange Kreise auf das Blatt, bis das ganze Blatt vollkommen schwarz war, und dann nahm er das nächste Blatt und malte weiter Kreise, und das tat er den ganzen Tag lang, jeden Tag, und er passte nicht mehr im Unterricht auf, sondern malte Kreise über all seine Prüfungsbögen und Arbeitsblätter. Meine Mutter sagte, das Problem war, dass der Junge zwar für sich eine Routine erfunden hatte, mit der er den Verlust ertragen konnte, nur dass es leider eine destruktive Routine war. Am Ende brachte meine Mutter ihn dazu, um seinen Vater zu weinen oder so was, und da hörte er irgendwann auf Kreise zu malen und wurde wieder ein glücklicher Mensch. Oder so ähnlich. Jedenfalls musste ich manchmal an den Jungen mit den Kreisen denken, denn irgendwie verstand ich ihn. Auch für mich war Routine immer tröstlich gewesen. Ich schätze, deswegen wurde mir Langeweile nie richtig langweilig. Wahrscheinlich konnte ich das jemandem wie Margo nie erklären, aber ein Leben lang Kreise zu malen schien mir irgendwie eine vernünftige Art von Verrücktheit zu sein.
Deswegen hätte ich mit meiner Entscheidung, nicht nach New York zu fahren, zufrieden sein sollen – es war ohnehin eine blöde Idee. Doch als ich mich abends und am nächsten Tag in der Schule in meine Routine stürzte, nagte etwas tief in mir, als würde mich die Routine noch weiter weg von ihr bringen.
7
Am Dienstagabend, sie war seit sechs Tagen verschwunden, sprach ich mit meinen Eltern. Es war keine große Entscheidung oder so was; ich redete einfach mit ihnen. Ich saß an der Küchentheke, während mein Vater Gemüse schnitt und meine Mutter ein Stück Rindfleisch in der Pfanne
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