Mariana: Roman (German Edition)
richtete sich auf, als ich durch die niedrige, schwingende Vorgartentür trat, und begrüßte mich mit einem Lächeln, das Willkommen und Verständnis ausdrückte.
»Ich hatte dich schon früher erwartet«, sagte sie, »aber ich nehme an, du warst sehr beschäftigt heute. Du bist natürlich enttäuscht.«
Wie wunderbar, nichts erklären zu müssen. »Ja, das bin ich.«
»Du hast mehr erwartet.«
»Ich wollte, daß es wie im Märchen ist«, gab ich mit einem wehmütigen Lächeln zu. »Dumm von mir.«
»Durchaus nicht«, antwortete sie entschieden. »Aber selbst Liebende im Märchen haben schwierige Momente, bevor sie glücklich bis an ihr Ende leben können. Hab ein wenig Geduld. Vertraue der Entwicklung, und alles wird schließlich gut werden. Du wirst sehen. Hast du schon zu Abend gegessen?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich hatte keinen Hunger.«
»Na, dann komm mal mit hinein. Du wirst dich besser fühlen, wenn du etwas gegessen hast.«
Das Cottage war von innen genauso anheimelnd wie von außen und wirkte fröhlich mit seinen weich gepolsterten, mit geblümtem Chintz bezogenen Sitzmöbeln, den weißen Wänden und den Spitzenvorhängen, die durch die quadratischen Flügelfenster das letzte Sonnenlicht des Tages hereinströmen ließen. Es wunderte mich nicht, eine zusammengerollte Katze auf dem Fensterbrett zu sehen; was mich auf kindische Art überraschte, war nur, daß die Katze rötlichgelb und nicht schwarz war. Bis mir plötzlich einfiel, daß es vielleicht doch wieder nicht so überraschend war.
»Ich glaube, ich habe Ihre Katze schon einmal gesehen«, bemerkte ich, »als sie bei meinem Haus über die Straße ging.«
»Das würde mich nicht wundern. Er ist ein richtiger Rumtreiber, der da. Seine Mutter war eher der häusliche Typ, aber er kommt mehr nach seinem Großvater, fürchte ich.«
Nachdem sie mich in die kleine Küche geführt hatte, beschäftigte sich Mrs. Hutherson damit, den Tisch mit Sandwiches und Appetithäppchen zu beladen und die unvermeidliche Kanne Tee zu brauen. Wenn sie mir schon keine Antworten geben konnte, so schien sie doch entschlossen, mir wenigstens Trost zu spenden und den Schmerz meiner Enttäuschung zu mildern.
»War das dein Bruder, den ich mit Geoff und Iain oben bei den Ställen gesehen habe?« fragte sie auf einmal.
Ich nickte. »Sie haben die große Besichtigungstour für ihn veranstaltet, glaube ich.«
»Er sieht dir ziemlich ähnlich. Vivien erzählte mir, daß er Pfarrer sei.«
»Er hat eine Pfarrei in Hampshire. Ich stelle ihn vor, wenn er das nächste Mal kommt«, versprach ich. »Er kommt alle paar Wochen vorbei, um nach mir zu sehen.«
»Er macht sich Sorgen um dich, denke ich.« Sie legte ihren Kopf schräg und betrachtete eingehend mein Gesicht. »Vielleicht hat er auch Grund dazu?«
Ich wischte die Frage beiseite. »Nein, nein … es geht mir gut, wirklich.« Unter der sanften Herausforderung ihrer Augen gab ich etwas nach. »Na ja, ich habe in letzter Zeit Probleme mit der Kontrolle, wenn ich ehrlich bin. Ich kann die Zeiten meiner Rückblenden nicht immer selbst bestimmen, manchmal gleite ich einfach in die Vergangenheit, ohne daß ich es will.«
»Du gehst jetzt jeden Tag zurück, nicht wahr?«
»Beinahe, ja.« Ich nickte. »Es ist so schwierig, es nicht zu tun. Mir liegt soviel an ihnen, verstehen Sie. Es ist mir wichtig, was mit ihnen geschieht, und sie sind alle so wirklich …«
»Wirklicher vielleicht als wir anderen?« Mein Gesichtsausdruck war Antwort genug, und sie nickte. »Ja, ich verstehe. Für die Gegenwart ist noch Zeit genug, wenn die Vergangenheit geklärt ist. Aber du darfst die Verbindung zur Gegenwart nicht verlieren, Julia«, warnte sie mich. »Die Vergangenheit kann uns vieles lehren, uns vieles geben, aber sie kann uns nicht erhalten. Der Kern des Lebens ist Veränderung, und wir müssen ständig weitergehen, denn sonst welkt die Seele und stirbt.«
Ich verbrachte die nächsten Tage geruhsam und arbeitete allein im Garten, wo die Kletterrose schüchtern entlang der abgebrochenen Mauer erblühte. Als die erste rosa Blüte sich entfaltete, schnitt ich sie liebevoll von dem gewundenen Ast und stellte sie in eine Vase neben mein Zeichenbrett. Sorgfältig kopierte ich jede zarte Blattwindung aufs Papier und schattierte die Zeichnung unter genauer Beachtung der Einzelheiten. In meinen Illustrationen würde sie die perfekte Rose der ›Schönen‹ abgeben, gestohlen aus dem Garten des ›Biests‹. Auf dem Papier war
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