Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Bentley Chang, ihr neuer Fahrer, hatte die Figur eines Sumo-Ringers und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Was Sprachen anbetraf, so hätte er sich um eine Stellung bei der UN bewerben können. Außer dem schönsten Queen’s Englisch beherrschte er japanisch, kantonesisch, Mandarin sowie einigermaßen Hakka und Tanka. Zudem hatte er Tristan davon überzeugt, daß er Kung-fu-Kenntnisse besaß. Marissas Vertrauen hatte er durch die Kanone in der Schulterhalfter gewonnen.
Genau so eindrucksvoll wie er war sein Wagen. Es war ein überlanger gepanzerter Mercedes, der normalerweise für ausländische Würdenträger bestimmt war. Als Marissa von Tristan wissen wollte, was er kostete, bat er sie, ihn nicht danach zu fragen. Er hatte den Wagen am Abend zuvor bestellt, indem er den Autoverleih für Luxuslimousinen selber angerufen hatte, statt das durch den Geschäftsführer erledigen zu lassen.
Als sie die Straßenbahnhaltestelle am Fuß des Victoria Peak erreichten, war es schon 9.30 Uhr.
»Und ich hoffte, wir würden früh da sein«, sagte Tristan.
Bevor sie ausstiegen, ging Tristan noch einmal mit Bentley die Anweisungen durch, die er ihm bereits zuvor erteilt hatte. Bentley sollte zum Peak fahren und in einiger Entfernung Beobachterposten beziehen. Wenn etwas nicht in Ordnung war, würde ihm Tristan ein Zeichen geben, indem er sich zweimal durch die Haare fuhr. Wenn Bentley das sah, sollte er einschreiten, wie immer er es für richtig hielt. Verlief aber alles glatt, dann sollte Bentley wieder nach unten fahren und warten, bis Marissa und Tristan mit der Straßenbahn dort ankamen.
»Noch Fragen?« sagte Tristan zu Muskelmann Bentley.
»Ja, eine«, sagte Bentley. »Wenn die Sache mit Rauschgift zu tun hat, sagen Sie es mir gleich!«
Tristan lachte. »Nein, wir befassen uns mit keinerlei Rauschgift«, sagte er.
»Wenn das nicht stimmen sollte, werde ich ärgerlich werden«, sagte Bentley.
»Ich möchte wirklich nicht erleben, daß Sie ärgerlich werden«, sagte Tristan.
Die Auffahrt in der roten Straßenbahn, die eigentlich eine Seilbahn war, wurde zu einem Vergnügen. Schnell ließen sie den Beton von Central hinter sich und stiegen an den bewaldeten Hängen mit schattigen Plätzchen voll Jasmin, wildem Indigo, Seidelbast und Rhododendron empor. Selbst in der Bahn konnte man die Elstern draußen hören.
Der Gipfel selbst war eine Enttäuschung. Die Bergspitze lag noch im Morgennebel. So konnten Marissa und Tristan! nichts von der vielgepriesenen Aussicht erblicken. Schön war allerdings die Blätterpracht, besonders die der exotischen Bäume, an denen noch der Tau hing.
Um zu zeigen, daß sie da waren, gingen Marissa und Tristan mehrmals um den Peak Tower. Der Gipfelturm war eine dreistöckige Einkaufsesplanade mit Restaurants, einem Eiskremstand, einem Drugstore und sogar einem Supermarkt. Marissa fühlte sich besonders von den Ständen mit chinesischem Kunsthandwerk angezogen.
Beim Umherwandern schauten sie mit einem Auge immer nach den drei Männern aus, die sie am Vortag entführt hatten. Aber sie bekamen niemand zu Gesicht, den sie kannten, außer Bentley. Der war, wie verabredet, oben angekommen, hielt sich aber weisungsgemäß unauffällig im Hintergrund. Weder er noch Marissa und Tristan tauschten auch nur ein Nicken aus.
Um 11.15 Uhr waren Tristan und Marissa so weit, daß sie aufgeben wollten.
»Ich nehme an, sie haben von dem Vorfall im Peninsula gehört«, sagte Marissa.
»Verdammt«, sagte Tristan. »Jetzt weiß ich nicht mehr, was wir machen sollen. Wir stehen wieder am Anfang.«
Niedergeschlagen bummelten sie zur oberen Haltestelle zurück. Nach so hohen Erwartungen war das eine schwere Enttäuschung.
»Entschuldigen Sie«, sagte eine ältere Frau, die ihnen entgegenkam. Sie trug einen breitrandigen Strohhut mit schwarzem Band und hatte auf einer Bank neben dem Eingang zur Seilbahn gesessen.
»Sind Sie Mr. Williams?« fragte sie.
»Ja«, sagte Tristan.
»Ich soll Ihnen von Mr. Yip ausrichten«, sagte sie, »daß er ihre Verabredung heute morgen zu seinem Bedauern nicht einhalten konnte. Aber er würde sich freuen, wenn Sie ihn im alten Restaurant Stanley treffen würden.«
»Wann?« fragte Tristan.
»Das ist alles, was ich weiß«, sagte die Frau, verbeugte sich und ging mit schlurfenden Schritten eilig davon.
Tristan blickte Marissa an. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich nehme an, Mr. Yip ist der Mann im weißen Anzug.«
»Aber wann sollen wir denn ins Restaurant Stanley gehen?«
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