Marissa Blumenthal 02 - Trauma
nicht.«
Marissa trat hinzu und betrachtete ebenfalls seine Lippe aus der Nähe. »Du solltest dich lieber behandeln lassen«, sagte sie.
Dr. Wingate bog Roberts Kopf etwas nach hinten, um die Lippe genauer untersuchen zu können. »Vielleicht muß die Wunde auch genäht werden«, sagte er. »Tut kaum weh. Kommen Sie, ich bringe Sie hin!«
Robert besah sich die Blutflecken auf dem Taschentuch. »Das ist doch nicht zu glauben«, sagte er voller Abscheu.
»Es dauert bestimmt nicht lange«, sagte Marissa. »Inzwischen melde ich mich an und warte hier.«
Nach kurzem Zögern folgte Robert dem Direktor.
Marissa sah, wie sich die Tür hinter ihnen schloß. Sie könnte Robert kaum einen Vorwurf machen, wenn dieser Zwischenfall heute vormittag seinen Widerwillen gegen eine Fortsetzung der Behandlung verstärken sollte.
Plötzlich überfielen sie selber Zweifel daran, ob es richtig war, diesen vierten Versuch einer künstlichen Befruchtung zu unternehmen. Wieso konnte sie hoffen, daß es diesmal zum Erfolg führen würde? Auf einmal hatte sie das Gefühl, daß doch alles sinnlos war.
Marissa seufzte tief auf und kämpfte gegen die von neuem aufsteigenden Tränen an. Dann schaute sie sich im Wartezimmer um. Die anderen Patientinnen hatten sich schon wieder ruhig in ihre Magazine vertieft. Aus irgendeinem Grunde brachte Marissa es nicht fertig, die gewohnten Formalitäten zu erledigen. Statt sich bei der Aufnahmeschwester anzumelden, nahm sie auf einem leeren Sitz Platz. Praktisch ließ sie sich einfach fallen. Was hatte es für einen Sinn, sich noch einmal der Eizellenentnahme zu unterziehen, wenn es doch sicher war, daß es keinen Erfolg bringen würde?
Sie ließ den Kopf in die Hände sinken. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so deprimiert gewesen zu sein. Ausgenommen damals am Ende ihres Stipendiatenjahrs im Kinderkrankenhaus. Das war, als Roger Shulman ihre langjährige Beziehung aufgekündigt hatte, was sie schließlich in das CDC geführt hatte.
Bei der Erinnerung an Roger sank Marissas Stimmung noch mehr. Im späten Frühjahr war ihr Verhältnis noch in schönster Blüte gewesen. Aus heiterem Himmel hatte er sie dann mit der Nachricht überrascht, daß er an die Universität von L.A. gehen wolle, um dort ein Stipendium in Neurochirurgie wahrzunehmen. Und er wollte allein gehen. Damals hatte sie das tief getroffen. Jetzt meinte sie zu wissen, daß es so besser für ihn gewesen war, wegen ihrer Unfruchtbarkeit. Dann aber sagte sie sich: Das ist doch verrückt. Und versuchte den Gedanken abzuschütteln.
Im Geist versetzte sich Marissa in die Zeit vor anderthalb Jahren, als Robert und sie übereingekommen waren, eine Familie zu gründen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, denn zur Feier ihres Entschlusses hatten sie eine Wochenendreise zum Nantucket Island unternommen und mit einem guten Cabernet Sauvignon selig darauf angestoßen.
Damals glaubten sie beide, sie würde in wenigen Wochen, höchstens in zwei Monaten schwanger werden. Da sie sich bis dahin immer sorgfältig vor einer unerwünschten Schwangerschaft geschützt hatte, kam es ihr nie in den Sinn, daß es nun ein Problem für sie sein könnte, schwanger zu werden. Aber nach ungefähr sieben Monaten begann Marissa sich Sorgen zu machen. Immer wenn der Zeitpunkt ihrer Periode nahte, lebte sie in steigender Spannung, der jedesmal tiefe Niedergeschlagenheit folgte, wenn die Periode wirklich eintraf. Nach zehn Monaten war es Robert und ihr klar, daß da irgend etwas nicht in Ordnung sein konnte. Nach einem Jahr hatten sie den schweren Entschluß gefaßt, etwas dagegen zu tun. Woraufhin sie in die Frauenklinik gegangen waren, um sich auf eventuelle Unfruchtbarkeit testen zu lassen.
Die erste Hürde, die Sperma-Analyse, nahm Robert mit fliegenden Fahnen. Marissas erste Tests waren komplizierter. Sie umfaßten auch Röntgenaufnahmen ihrer Gebärmutter und der Eileiter.
Als Ärztin kannte sich Marissa ein bißchen mit dem Test aus. Sie hatte auch schon in Büchern einschlägige Röntgenaufnahmen gesehen. Aber es stellte sich heraus, daß die Betrachtung von Fotos in Büchern keine ausreichende Vorbereitung auf das echte Erlebnis sind. An diesen Test konnte sie sich so gut erinnern, als hätte er erst gestern stattgefunden.
»Rutschen Sie noch etwas tiefer!« hatte Dr. Tolentino, der Radiologe, gesagt. Dabei stellte er das große Röntgendurchleuchtungsgerät über Marissas Unterleib ein. In dem Gerät brannte ein Licht, das ein Gitternetz auf
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