Marissa Blumenthal 02 - Trauma
Wangen. Sie machte einen noch unglücklicheren Eindruck, als zu erwarten gewesen war.
»Was ist los?« fragte Marissa.
Wendy wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie konnte nur den Kopf schütteln. Marissa packte sie am Arm und zog sie hoch. Zusammen gingen sie an den hereindrängenden Zuschauern vorbei aus dem Saal.
Marissa steuerte ihre Freundin in die Damentoilette.
»Was ist?« fragte sie. »Irgendwas zwischen Gustave und dir?« Wendy schüttelte wieder den Kopf und schluchzte weiter. Marissa
schloß sie fest in die Arme. »Ist es wegen des Prozesses?«
Wendy schüttelte nur den Kopf. Schließlich stieß sie hervor: »Es ist mein Bluttest. Er wurde am Sonnabend vorgenommen. Ich bin nicht schwanger.«
»Aber das war doch nur der erste Test«, sagte Marissa. »Erst nach dem zweiten läßt sich beurteilen, ob der Hormonspiegel ausreichend angestiegen ist.« Sie wollte Optimismus verbreiten, wußte aber, daß, wenn Wendy glaubte, nicht schwanger zu sein, sie es höchstwahr-
scheinlich auch nicht war. Ein Eiszapfen bohrte sich Marissa ins Herz. Denn auf dem Weg zum Gericht hatte sie sich heute morgen im Memorial zum gleichen Zweck Blut abnehmen lassen.
»Der Hormonspiegel war so niedrig«, sagte Wendy schluchzend,
»daß ich nicht schwanger sein kann. Ich hab’s ja geahnt.«
»Das tut mir sehr leid«, sagte Marissa.
»Was meinst du, können die Vorfälle in der Klinik am Freitagabend Einfluß gehabt haben?« fragte Wendy.
Obwohl Marissa gerade der gleiche furchtbare Gedanke gekommen war, sagte sie: »Nein, bestimmt nicht!«
»Entschuldigen Sie«, sagte eine gummikauende Frau in engem Minikleid, »ist eine von Ihnen Dr. Blumenthal?«
»Ja, ich«, sagte Marissa erstaunt.
Die Frau zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ihr Mann erwartet Sie. Er sagt, Sie sollen sofort rauskommen.«
»Die fangen wohl schon an, die Fälle aufzurufen«, sagte Marissa zu Wendy. »Wir müssen reingehen.«
»Ich weiß«, sagte Wendy immer noch weinend, ließ sich von Marissa ein Papiertuch geben und fuhr sich damit über die Augen. »Ich sehe bestimmt scheußlich aus«, sagte sie. »Ich traue mich gar nicht, in den Spiegel zu sehen.«
»Du siehst gut aus«, schwindelte Marissa.
Zusammen verließen die beiden die Damentoilette. Robert stand, die Hände in die Hüften gestemmt, direkt vor der Tür.
Er warf einen Blick auf Wendy und fragte gereizt: »Was ist denn nun schon wieder los? Ihr wißt doch, daß ihr im Gerichtssaal sein müßt, wenn euer Fall aufgerufen wird, oder?«
»Hör zu«, sagte Marissa mit leiser Stimme und keineswegs höflich,
»ich weiß, daß es dir schwerfällt, das zu verstehen, aber Wendy hat großen Kummer. Ihre Embryoverpflanzung hat nicht geklappt. Für uns ist das so schlimm wie eine Fehlgeburt.«
Robert verdrehte die Augen. »Komm jetzt!« sagte er. »Das kann sie sich für ihre Therapeutin aufsparen. Ich kann nicht zulassen, daß du beim Aufruf fehlst. Dann bist du von vornherein unten durch.«
Doch Roberts Sorge erwies sich als unbegründet. Erst nach einer halben Stunde wurden Marissa und Wendy aufgerufen. Während des Wartens waren sie sehr nervös gewesen. Mr. Freeborn erklärte ihnen, die Fälle würden in der Reihenfolge aufgerufen, in der die für die Festnahmen zuständigen Behörden die schriftlichen Unterlagen eingereicht hätten. So mußten sie mitansehen, wie alle möglichen Leute unter den verschiedensten Anklagen wie Totschlag, Raubüberfall, versuchter Vergewaltigung, Drogenhandel, Alkohol am Steuer, Hehlerei, tätlichem Angriff und Körperverletzung aufgerufen wurden.
Schließlich, um 10.20 Uhr, verkündete der Gerichtsdiener: »Die Fälle 90-45 CR-987 und 988, das Commonwealth gegen BlumenthalBuchanan und Wilson-Anderson.«
»Okay, das sind wir«, sagte Mr. Freeborn. Er stand auf und bedeutete Marissa, das gleiche zu tun.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs sah Marissa Wendy und ihren Anwalt aufstehen. Er war ein großer, dünner Mann, der ein Jackett mit zu kurzen Ärmeln anhatte, so daß seine Arme und die knochigen Hände unnatürlich lang erschienen.
Die vier begaben sich gemeinsam aus dem Zuhörerraum nach vorn und traten vor den Richtertisch.
Richter Burano wirkte reichlich uninteressiert. Fortwährend blätterte er in den vor ihm liegenden Papieren. Er war ein stämmiger Mann in den 60ern mit zerknitterten Gesichtszügen, die ihm eine unheimliche Ähnlichkeit mit einer Bulldogge verliehen. Die Lesebrille war ihm weit auf die Nase
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